Erstellt am: 15. 11. 2011 - 23:35 Uhr
Der Flaneur auf zwei Rädern
S. Fischer Verlag
"Bicycle Diaries. Ein Fahrrad. Neun Metropolen" ist in der deutschen Ausgabe beim S. Fischer Verlag in der Übersetzung von Birgit Jakobeit erschienen.
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Ein einfühlsamer Audiomeister
Überraschung No 1: David Byrne ist mein erster Interviewpartner, der sich je aktiv auf die Gesprächssituation eingelassen hat. Es war am Donnerstag vor zwei Wochen knapp nach der vereinbarten Uhrzeit in seinem Office in SoHo. Byrne war soeben wirren Haares (Der Fahrtwind!) in das kleine Nebenzimmer getreten und nahm nach kurzer Begrüßung Platz auf einem Drehstuhl. Es folgte ein prüfender Blick auf meinen MP3-Rekorder, dann auf den Stuhl und schließlich in meine Augen. „Das macht unangenehme Geräusche, wenn ich auf dem Ding herumschwinge – nicht?“. Ohne meine Antwort abzuwarten, stand Byrne auf und besorgte einen Holzsessel. Quietschgefahr gebannt.
Christian Lehner
Diese kleine Demonstration von Einfühlungsvermögen war natürlich ein perfekter Einstieg in das Gespräch. Eine erbauliche Erfahrung war sie obendrein. Es kommt in diesem Gewerbe der MusikerInnenbefragung nicht selten vor, dass man dem jeweiligen Gegenüber erklären muss, dass zB gekaute, gelutschte und geknabberte Sounds auf Band eher weniger toll klingen und auch nur selten der Verständlichkeit zuträglich sind. Von wegen audiosensibel! Anders bei Byrne.
Es taugt natürlich auch, wenn sich der Gesprächspartner als solcher begreift und nicht versucht, Allüren oder Unnahbarkeiten zu inszenieren, weil das aus Imagegründen irgendwie total sein muss. Nichts gegen Posen, aber mit denen kann man sich in der Regel eher weniger gut unterhalten.
Und ein bisschen Unnahbarkeit durfte man bei Byrne schon vermuten. Immerhin stand der Co-Founder und Chefdirigent der Talking Heads in den vergangenen 30 Jahren nicht bloß ein Mal an einer der Crossroads popmusikalischer Innovation und gilt gemeinhin als Querdenker und sehr individuelle Erscheinung.
Christian Lehner
Nostalgiefreier Avantpopper
Post Punk, Sampling, Weißbrot Funk - dazu ein Dutzend Hits zwischen Pop-Charts und Subkultur, als diese Begriffe noch streng getrennt voneinander geführt wurden. David Byrne kann man neben seinem langjährigen Partner in Crime, Brian Eno, ohne Scham als einen der einflussreichsten Architekten der avancierteren Popmusik bezeichnen. Ein Vergleich mit aktuell hipper Ware zwischen Williamsburg und Berlin macht Sie sicher. Dabei klingt die Gegenwart selten so zwingend wie die Vergangenheit. Mit Talking Heads Klassikern wie „Burning Down The House“, „I Zimbra“ oder “Psycho Killer” verwandelt man noch heute die flügellahmsten Party in ein knallbuntes Vogerlparadies.
Aber um Musik sollte es die kommenden 40 Minuten gar nicht so sehr gehen. Denn neben angewandter Multikreativität in so ziemlich allen nennbaren Kunstsparten dieser Erde ist David Byrne auch noch Fahrrad-Enthusiast. Und das nicht erst seit ein paar Jahren, so wie die Mehrzahl der New Yorker Biker. Byrne betrachtet die Welt nun schon seit über drei Jahrzehnten vom Sattel eines Fahrrads aus, durchmisst auf zwei Rädern Metropolen wie Buenos Aires, Berlin oder Manila und macht sich so seine Gedanken über Land und Leute.
Christian Lehner
Das Glück dieser Erde
Zusammengefasst hat er seine Abenteuer, Essays, Blog-Posts, Musikabhandlungen, Tagebuchnotizen, Ausflüge in die Geschichte der beradelten Orte und Entwürfe für den Stadtverkehr der Zukunf in den "Bicycle Diaries“, einem Buch, das seit 11. November auch in deutscher Sprache erhältlich ist (Verlag S. Fischer). Dass wir es hier nicht mit einem aufdringlichen Missionierungswerk zu tun bekommen, sollte sich bei Byrne von selbst verstehen. Mit auf und abtauchenden Gestalten wie etwa Stefan Sagmeister oder Otto Mühl – um nur zwei österreichische Künstler zu nennen – kann man auch davon ausgehen, dass sich die Texte nicht notwendigerweise bloß um die Kultur und den Kult des Radfahrens drehen.
Amüsant sind jene Episoden, in denen Byrne über seine Bike-Erlebnisse im New York der späten 70er schreibt. Und man kann sich ausmalen, wie strange der drahtige Künstler auf seine vollkommen desolate Umwelt bestehend aus Junkies, Hungerkünstlern und Punks gewirkt haben muss, wenn er adrett gekleidet und möglichst aufrecht sitzend durch die Ruinen der Lower East Side gestrampelt ist. „Ich war wohl schon immer so ein bisschen ein Einzelgänger“, meint Byrne dazu in einem vollkommen unwehleidigen Tonfall.
Christian Lehner
Was er sonst noch zum Glück der Erde auf dem Rücken eines Esels, die Occupy Wall Street Bewegung, weiße Ballett-Tututs als Bühnen-Outfits, diverse Kollaborationen, Lana Del Rey, Nostalgiefreiheit in Bezug auf die Talking Heads und einen roten Nummer Eins Sticker auf einem grauen Rucksack zu sagen hat, das könnt Ihr am Mittwoch Abend in der FM4-Homebase bei einer weiteren Ausgabe von New York State Of Mind hören.
Der Ritt am Austro-Pferd
Ach ja, die Überraschung No 2: Im Anschluss an das Interview hat mir Byrne kurz sein Office gezeigt. Dort sind drei Mitarbeiter damit beschäftigt, Aktiviäten in aller Welt zu koordinieren. Zuletzt installierte Byrne einen riesigen, aufblasbaren Globus unter die Trasse des High Line Parks in Manhattan und spielte eine kleine Rolle in Cheyenne – This Must Be The Place, dem neuen Film von Paolo Sorrentiono mit Sean Penn in der Rolle eines Ex-Goth Rockstars auf Nazijagd in den USA ...
Christian Lehner
Im herrlich weiträumigen, aber mit der nächsten Lease vielleicht nicht mehr leistbaren Atelier stehen Artefakte von Byrnes bisherigen Schaffen herum wie etwa das Piano aus der Playing The Building Installation im South Sea Port von Manhattan oder eine Art Teppich, bestehend aus Effektpedalen, die verkabelt mit einem Lautsprecher Geräusche von sich geben, sobald man darüber hinwegschreitet. Und dort lehnt auch eines seiner Vintage Bikes, ein Modell der Marke Austro Daimler. Byrne, der auf Tour stets ein Klapprad mit sich führt, lacht, als er mir das österreichische Fahrrad zeigt. Überraschung gelungen, ich hab von diesem Brand noch nie gehört.
Zum Nachhören:
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Programmhinweis
New York State Of Mind mit David Byrne, Mittwoch ab 20 Uhr in der FM4-Homebase.
artist | song | |
---|---|---|
Talking Heads | Once in A Lifetime | |
Dirty Projectors | Knotty Pine | |
David Byrne & Brian Eno | Strange Overtones | |
Talking Heads | I Zimbra | |
Javelin | Oh Centra! | |
Lana Del Rey | Blue Jeans | |
Talking Heads | This Must Be The Place | |
Arcade Fire | Sprawl II |