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Rainer Springenschmid

Punk & Politik, Fußball & Feuilleton: Don't believe the hype!

15. 11. 2011 - 15:04

Am rechten Auge blind?

Eine zufällig aufgeklärte Mordserie rückt in Deutschland den Blick in Richtung Rechts-Terrorismus. Wie konnte direkt vor den Augen des Inlandsgeheimdienstes eine derart gewaltbereite Neonazi-Szene entstehen?

Johannes Radke ist freier Journalist und Rechtsextremismusexperte, für Zeit-Online betreut er einen Blog zum Thema Rechtsextremismus. Rainer Springenschmid hat mit ihm über die Entwicklungen im deutschen Rechts-Terrorismus gesprochen.

Rainer Springenschmid: Wie konnte das passieren, dass eine rechtsradikale Terrorgruppe jahrelang ihr Unwesen getrieben und Menschen umgebracht hat, und niemand ist ihr auf die Spur gekommen?

Johannes Radke: Diese Frage muss in den nächsten Wochen der Verfassungsschutz beantworten. Und da warte ich auch sehr gespannt drauf. Dass die Täter kein Bekennerschreiben liegen gelassen haben, hat es für die Sicherheitskräfte natürlich schwierig gemacht. Trotzdem fragt man sich, warum jahrelang im klassischen kriminellen Milieu nach den Tätern gesucht wurde, und niemand auf die Idee gekommen ist, dass es vielleicht Neonazis gewesen sein könnten.

Was sagt das denn über die Gedankenwelt der deutschen Polizei aus?

Es ist die Frage, ob da nicht ein bisschen der Blick in Richtung rechten Terrorismus verloren wurde. Rechter Terrorismus ist in der Bundesrepublik nicht neu, es gab in der Vergangenheit viele Fälle. Allein im Jahr 2000 hat ein Neonazi, Michael Berger, in Dortmund drei Polizisten und dann sich selbst erschossen. Solche Fälle gab es ja, und da fragt man sich schon, wie das sein konnte, dass nicht auch in diese Richtung gedacht wurde.

Nach offiziellen Statistiken sind in Deutschland seit der Wiedervereinigung fast 50 Menschen bei rechtsradikalen Gewalttaten getötet worden. Das ist schon verwunderlich, dass man jetzt erst drauf kommt, dass es diese Gewalttaten gibt.

So ist das ja auch wieder nicht. Dass es rechte Gewalt, auch tötliche rechte Gewalt, gibt, das ist schon klar. Dann gibt es aber diese Diskrepanz zwischen den offiziellen und von Journalisten recherchierten Zahlen. Die Bundesregierung spricht von 47 Toten seit 1990, Journalisten wie ich und andere kommen bei Recherchen allerdings auf mindestens 138 Fälle. Da ist schon mein Eindruck, dass bei manchen Behörden einfach das Problembewusstsein fehlt. Dieses rechte Gewaltpotential wird einfach unterschätzt, keine Frage.

Zählt der Mord an den drei Polizisten, den Sie gerade beschrieben haben, zu den 47 offiziellen Fällen?

Das ist ein gutes Beispiel. Michael Berger, ein ganz bekannter Neonazi, auch dem Verfassungsschutz bekannt, posiert mit Hitler-Gruß und Hakenkreuzfahne auf Fotos, erschießt drei Polizisten und dann sich selbst, und das LKA sagt danach, das sind keine Opfer rechter Gewalt. Warum? Der Täter hat sich ja erschossen, und man konnte nicht mehr nach seinem Motiv fragen. Klingt unglaublich, ist aber tatsächlich so.

Kann es sein, dass man, auch mit Blick auf das Bild Deutschlands im Ausland, versucht, rechtsradikale Taten möglichst nicht als solche dastehen zu lassen? Damit man vielleicht nicht mit der eigenen Vergangenheit konfrontiert wird?

Das gab es schon, vor allem in den 90er Jahren und vor allem im Osten. Da wurde von Sicherheitsbehörden und Justiz und Polizei versucht, Sachen unter den Tisch zu kehren. Dann war das eben eine Auseinandersetzung unter Jugendlichen und kein Überfall von Neonazis. Eigentlich hatte ich allerdings gedacht, dass diese Zeiten vorbei sind. In den letzten Jahren ist das viel besser geworden. Gerade auch im Osten Deutschlands wurde da schon viel genauer hin geschaut. Ich würde also nicht sagen, man könnte den Sicherheitsbehörden vorwerfen, dass rechte Gewalt grundsätzlich verharmlost wird. Aber anscheinend gibt es immer wieder Schwachstellen, wo das doch passiert.

Jetzt scheint ja auch der deutsche Verfassungsschutz eine zwielichtige Rolle in der ganzen Angelegenheit zu spielen. Es heißt, dass ein Verfassungsschützer sogar bei einem dieser "Döner-Morde" anwesend gewesen sein könnte. Wie kann das sein, dass solche Taten unter den Augen des Verfassungsschutzes passieren?

Das Verfassungsschutz spielt da wirklich eine ganz zwielichtige Rolle, und es gibt hier sehr, sehr viele Fragen. Das fängt schon damit an, dass der Chef vom "Thüringer Heimatschutz", also jener Nazigruppe, in der die Täter aktiv waren, bevor sie in den Untergrund gegangen sind, nachweislich für den Verfassungsschutz als Spitzel gearbeitet hat. Er hat damals mehr als 200.000 Mark bekommen. Und möglicherweise hat er auch diesen dreien gesagt, dass nach ihnen gesucht wird und den Tipp gegeben, liebe Kameraden, bitte taucht jetzt unter. Was die andere Geschichte betrifft, dass bei einem der Morde möglicherweise wirklich kurz davor oder sogar unmittelbar ein Verfassungsschützer anwesend war, da muss man erst mal abwarten. Diese Information ist ja noch ganz neu, das kann ich noch gar nicht einschätzen, was da dran ist.

Es gab ja einmal einen Versuch, die NPD zu verbieten, der daran gescheitert ist, dass die NPD von Verfassungsschutzmitarbeitern durchsetzt war. Jetzt taucht das wieder bei diesem "Thüringer Heimatschutz" auf und auch bei vielen anderen Neonazi-Organisationen heißt es oft, dass Führungskader mit dem Verfassungsschutz zusammenarbeiten. Irgendwie bekommt man ja den Eindruck, dass die halbe Neonazi-Szene in Deutschland aus Verfassungsschützern besteht. Kann das sein?

Am NPD-Verbotsverfahren hat man das ja gesehen. Da haben die Richter ganz offen gesagt, dass 15%, also jeder siebente, der NPD-Politiker in der Führungsspitze, für den Verfassungsschutz arbeiten. Und daran ist das dann gescheitert. Aber was viele Leute nicht wissen, oder nicht richtig unterscheiden: V-Männer, das sind keine Undercover-Polizisten oder Neonazis, die die Seiten gewechselt haben. Das sind weiter überzeugte Neonazis, die aber ein monatliches Gehalt dafür kriegen, dass sie Berichte abliefern. Aber ob das was in diesen Berichten drin steht die Wahrheit ist oder erfunden ist, ob das nur irgendwelche Informationen sind, um sich einfach wichtig zu machen, das kann natürlich niemand überprüfen. Und es gibt viele Fälle die bekannt geworden sind, wo Verfassungsschutz-Spitzel in der Szene mit dem Geld vom Verfassungsschutz rechtsextreme Straftaten, wie die Produktion von Nazi-CDs oder anderer Propaganda, begangen haben. Und das wirft natürlich viele Fragen auf, was dieses ganze Konzept der VS-Spitzel angeht.

Das heißt, es kann eigentlich sein, dass nicht der Verfassungsschutz die Neonazi-Szene beeinflusst, sondern dass die Szene den Verfassungsschutz aussaugt

Naja, nicht aussaugt. Aber die Spitzel können natürlich schon für sich entscheiden, welche Information sie an den Verfassungsschutz für viel Geld geben und wie viel Information sie für sich behalten. Das kann ja niemand kontrollieren. Aussteiger berichten immer wieder, dass es in der NPD beispielsweise eigene Leute gibt, die sich nur um die intern bekannten V-Leute des Verfassungsschutzes kümmern. Da heißt es dann: Alles klar, wenn euch der Verfassungsschutz anspricht, kommt zu uns. Wir klären ab, was ihr an die Verfassungsschützer raus gebt, und von dem Geld das ihr bekommt, gebt ihr einen gewissen Anteil in die Parteikasse, dann ist das für uns in Ordnung.

Es gibt ja diverse Sozialarbeit für die rechtsradikale Szene. Aussteiger-Projekte und so weiter. Da gab es in den letzten Jahren immer wieder finanzielle Probleme und die Angst von Politikern, dass die antifaschistische Ausrichtung nicht "demokratisch", sondern "links" sein könnte. Ist Antifaschismus in Deutschland in den letzten Jahren in Verruf gekommen?

Spätestens mit dem Regierungswechsel zur CDU hat das ganz stark zugenommen, dass Initiativen gegen rechts grundsätzlich immer unter dem Generalverdacht standen, Extremisten zu sein. Völlig absurd, wenn man sich das vorstellt: In irgendeinem Dorf, irgendwo in Brandenburg ist eine kleine Initiative, die sich als einzige gegen die erstarkenden Neonazis und diese exzessive Gewaltbereitschaft einsetzt, und dann müssen die sich den Vorwurf gefallen lassen, Extremisten zu sein. Das ist natürlich ein Unding, was da in der Politik vorgegangen ist. Da haben sich aber auch viele Politiker von den Grünen und der SPD dazu geäußert und gesagt, das geht so nicht. Es muss eine Arbeit gegen rechts und für die Demokratie möglich sein, ohne dass man damit gleich ins Visier der Sicherheitsbehörden gerät und sich den Vorwurf gefallen lassen muss, man sein verfassungsfeindlich.

Glauben Sie, da wird sich in Zukunft etwas ändern?

Ich hoffe es sehr, bin mir aber nicht sicher, ob sich das wirklich in diese Ecken ausbreitet. Wenn ich sehe, wie Angela Merkel zu dieser terroristischen rechten Gruppe, die zehn Menschen erschossen hat, befragt wurde und ihre Antwort war dann: 'Ja, man muss wachsam sein, bei jeder Form des Extremismus', eben möglicherweise auch in diesem Fall gegen den rechten Extremismus, da frage ich mich schon. Bei einem großen Nazi-Aufmarsch in Dresden wurden die Telefondaten von 20.000 jungen Leuten aufgenommen, die zehn Stunden friedlich auf der Straße saßen, um den Nazi-Aufmarsch zu verhindern. Und gleichzeitig kann diese Nazi-Gruppe zehn Menschen ermorden, ohne dass das jemand mitkriegt. Da fragt man sich natürlich, ob da die Verhältnismäßigkeit noch gewahrt ist.

Es soll ja auch im Osten Deutschlands sogenannte "national befreite Zonen" geben, also Gegenden, in die sich Menschen ausländischer Herkunft gar nicht hin trauen, weil sie sonst Gefahr laufen, gewaltsam vertrieben zu werden. Glauben Sie, dass das in den nächsten Jahren weiter toleriert wird?

Erstmal: Dieser Begriff der "national befreiten Zonen" ist eine Erfindung der Neonazi-Szene. Ein Wunschbegriff, also, was man gerne hätte, nämlich Dörfer oder Straßenzüge oder Viertel, wo sich andersdenkende Menschen nicht mehr hin trauen können, weil sie dann attackiert werden. Natürlich gibt es tatsächlich Regionen, wo die Nazi-Szene sehr stark ist, wo sie es auch schaffen, Leute einzuschüchtern. Aber tatsächliche "national befreite Zonen" gibt es eigentlich nicht in Deutschland, auch wenn die Nazi-Szene das gerne hätte und sich immer freut, wenn darüber berichtet wird. Aber klar ist: Dieses Konzept von Neonazis, bestimmte Regionen oder Orte für sich zu vereinnahmen und dafür zu sorgen, dass möglichst viele Neonazis dort hin ziehen und dort aktiv sind, das ist ein Problem, und da muss man auch schauen in der Zukunft, wie damit umgegangen wird.