Erstellt am: 13. 11. 2011 - 12:22 Uhr
Neongelb gewinnt
Ob ich was über die Londoner StudentInnendemo schreiben will, haben sie mich vergangenen Mittwoch gefragt.
Hier also wieder einmal ein verspäteter Bericht vom Korrespondenten, der nicht vor Ort war, diesmal abgelenkt und abgehalten von der dringlichen Aufgabe, sich in seinem neuen Büro einzunisten – was in meinem Fall bedeutet, sich durch die rund um die aus allen Fugen geratene Regallandschaft türmenden Papier- und Tonträger zu wühlen, so als würde man die eigenen Effekten sortieren.
Kein angenehmes Gefühl, aber auch nicht uninteressant, das ganze veraltete Papier aus der Schilling-Ära, die Schatten der Naivität der Boom-Periode, oder noch schlimmer, der unbekümmerten Zeit, die das bisschen dot.com-Crash für eine Krise hielt. Und ja, auch mein damaliges Fragen, wie sich das alles eigentlich ausgeht, war noch naiv in dem rückblickend völlig lachhaften, damit verbundenen Glauben, dass wir, die wir selbst nicht spekulierten, im Spiel der Spekulanten letztlich wenig zu verlieren hätten. Zur eigenen Beruhigung mutwillig zu kurz gedacht, wie (fast) alle anderen auch.

BBC
Ich musste dieses staubige Schwelgen also abbrechen an jenem Mittwochnachmittag, nicht um zur Demo zugehen, sondern wegen meines Termins in London: für den deutschen Rolling Stone Pete Townshend zusehen, wie er in der Bush Hall zu Shepherd's Bush vor einem Publikum gealterter Mods erklärt, wo damals seine und ihre gemeinsame Energie der gleichzeitigen Explosion in Pop- und Jugendkultur hergekommen sei.
Shit! Shit! Shit!
Seine These: Der vorangegangene Krieg, das Blut, die offenen Gedärme die Verwüstung, die darauffolgende Phase der Repression, des sexuellen Missbrauchs der Nachgeborenen, und „Shit! Shit! Shit!“.
Mir fiel dazu die dauernd gestellte Frage ein, warum die Jugend- und Popkultur heute nicht fähig ist, sich zu einer vergleichbaren gesellschaftlichen Relevanz aufzuschwingen.
Sie hat tausendundeine Antworten, aber eine davon schien am Tag meiner Abwesenheit von der gleichzeitig am anderen Ende der Stadt zu Ende gehenden StudentInnendemo besonders offensichtlich.
Früher einmal, in den Diskussionszirkeln der ausgestorbenen Alten Linken, sprach man von „Verelendungstheorie“: der Idee, dass die Arbeiter (damals noch nicht geschlechtsneutral), wenn's ihnen erst einmal so richtig dreckig geht, ihr revolutionäres Potenzial entdecken würden.
Die beste Gegenthese dazu war immer das historische Beispiel des stattdessen aus der Verelendung gewachsenen Faschismus. Was wiederum Pete Townshends Verelendungstheorie als Motor der Jugend- und Popkultur aussparte, war, dass seine Generation zwar die Nachwehen des Elends mitgekriegt, in ihrem Ausdruck von dessen Überwindung aber bereits vom darauffolgenden Wohlstand profitiert hatte.
Musiker (damals noch nicht geschlechtsneutral), die davon leben konnten, ihre AltersgenossInnen zu unterhalten, welche ihrerseits ein weites Feld von Möglichkeiten vorfanden, aus dem Repressionstrauma ihrer Kindheit auszubrechen.
Ein Drohbrief von der Polizei
Heute dagegen haben wir es mit einer Generation zu tun, die sich in ihrem Hanteln von unbezahltem Praktikum zu unbezahltem Praktikum gerade auf das Hereinbrechen der nächsten Ladung „Shit! Shit! Shit!“ einstellt bzw. die im Unterschied zu denen, die letztes Jahr demonstrierten, bereits mit den auf 9000 Pfund pro Jahr verdreifachten Studiengebühren umzugehen hat - eine Investition, die man entweder gleich bleiben lässt oder, wenn man sie einmal getätigt hat, vermutlich nicht gefährden will.
Vielleicht ist es nicht ganz verwunderlich, dass diese Generation auf all das nicht mit einer dynamischen Explosion der Kreativität und revolutionären Energie, sondern mit der Suche nach individuellen Überlebensstrategien reagiert.
Wie gesagt, die groß angekündigte StudentInnendemo in London ging bereits zu Ende, während sich in meinem Kopf zum Soundtrack von Pete Townshends akustischem Vortrag von „Drowned“, „I'm One“ etc. diese Gedankenketten formten.
Mein nachher überprüfter, sonst immer als Gegenansicht zur offiziellen Medienwahrnehmung diverser Proteste fungierender Twitterfeed hatte sich indessen erstaunlich ruhig verhalten.
Auf der BBC-Website sah man Helikopter-Bilder koordinierter Polizei-Reihen, die effizient den Fluss einer ungefähr gleichen Zahl von DemonstrantInnen regulierten.
Im Vorhinein war angekündigt worden, dass die Met diesmal Plastikgeschoße einsetzen würde. Alle, die beim letzten Mal verhaftet worden waren, ob später angezeigt, verurteilt oder weder noch, bekamen vor der Demo von der Exekutive einen drohenden Brief zugeschickt, dass es diesmal kein Nachsehen geben wurde.
Am Ende waren es 20 Leute, die bei den Straßenprotesten am Mittwoch verhaftet wurden. Dass diese Zahl in Medienberichten als ein Beleg der Geringfügigkeit der aufgetretenen Zwischenfälle kommuniziert wurde, sagt einiges über die Verhaftungsfreudigkeit der Met heutzutage aus.
Möglicherweise war die Einschüchterungstaktik also genauso aufgegangen wie jene der britischen Bildungspolitik, die Studierenden durch ökonomischen Druck zu disziplinieren.
Der von der Polizei vereitelte Versuch, auf dem Trafalgar Square eine Zeltstadt aufzubauen, schien - zumindest aus der Ferne - jedenfalls ein Eingeständnis der DemonstrantInnen zu reflektieren, dass die Occupy-Bewegung jener der StudentInnen derzeit ein paar Schritte voraus ist.