Erstellt am: 11. 11. 2011 - 15:00 Uhr
Mansura Eseddin: "Hinter dem Paradies"
UnionsVerlag Zürich
"Hinter dem Paradies" von Mansura Eseddin ist in einer Übersetzung aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich im Züricher Unionsverlag erschienen.
- Mehr Lesetipps unter fm4.orf.at/buch.
Mein Urgroßvater muss ein pragmatischer Mensch gewesen sein. Er war zum einen Bauer in Siwa, zum anderen Unternehmer in Alexandria. Er pendelte zu Anfang des 20. Jahrhunderts die 600 Kilometer von der Stadt aufs Land. Pragmatisch wie er war, hatte er je in Siwa und in Alexandria eine Frau. Eine Heirat im urbanen, gehobenen Umfeld und eine im bäuerlich ländlichen. Zwei unvereinbare Lebenswelten? Nicht in Ägypten, dort werden Land und Stadt sehr eng zusammengedacht.
Das Land ist dabei nicht nur Versorger der Bevölkerung. Gerade das fruchtbare Nildelta ist als mystischer Ort bekannt. Fremde Kräfte und Geister führen zu teils rätselhaftem Verhalten der Bewohner. So auch bei Salma, der Protagonistin in Mansura Essedins neuem Roman.
Salma, mehr Furie als Frau, stürmt durch einen Garten. Hinter ihr ein Diener, der sich mit einer schweren, großen Kiste aus Holz abmüht. Schweißnass durch die ägyptische Sommersonne führt er die Anweisungen der abwesend scheinenden Salma aus.
Sie schien von unbekannten Kräften, von einer Obsession getrieben. Mit einiger Mühe öffnet sie die Kiste, holte die Papiere heraus, die darin lagen, musterte sie eins ums andere und legte sie dann zurück. Sie goss einige Spritzer Kerosin darüber und setzte das Ganze ohne den geringsten Anflug eines Zögerns in Brand.
Die 180 treffend übersetzten Seiten führen einen weit weg vom ermüdenden Kairo-Zentralismus, hinein in das ländliche Nildelta. Nagib Mahfouz und Alaa Al Aswany sehen in Kairo den Spiegel des fragmentierten Landes. Eseddin erzählt anhand ihrer Protagonistin die Geschichte einer strauchelnden jungen Frau, die in ihr Elternhaus auf dem Land zurückgekehrt ist. Dort wird sie in Träumen und Psychosen mit ihrer Vergangenheit konfrontiert. Als das Buch 2009 veröffentlicht wurde, fand man darin das Dilemma des damaligen Ägypten. Zwischen Gegenwart und Vergangenheit hadert man, weil Perspektiven fehlen und selbst die Vergangenheit negativ ist.
Zwei Sphären, unzählige Sichtweisen
Im Roman sind die Unterschiede zwischen Traumwelt und Realität, Gegenwart und Vergangenheit, zwischen Personen und Konstruktionen nicht klar auszumachen. Eseddin bleibt darin ihrer Art treu dem Leser die Möglichkeit zu lassen der Geschichte seine eigene Interpretation zu geben.
Manchmal stelle ich mich wenige Minuten nachdem Aufstehen im Bad vor den Spiegel, nachdem mir mein Name entfallen ist. Nicht, dass ich ihn völlig vergessen hätte, es ist nur das Gefühl des Beraubtseins, das mir für einige Augenblicke die Fähigkeit nimmt, mich klar an das zu erinnern, was mich ausmacht. Ich sehe mein Gesicht, aber es sagt mir nichts. Ich bemühe mich redlich, meine Position in dieser Welt zu bestimmen, in diesem Körper, den meine Seele besetzt hält.
Man begleitet Salma durch ihren Roman immer von Außen, sieht was sie als Kind erlebt und geprägt hat, aber in manchen Situationen, wie oben, hört man sie sprechen und sieht sie stolpern.
Sozialer Aufstieg als Niedergang
Salmas Familie hat ihren sozialen Aufstieg mit einer (illegalen) Ziegelfabrik finanziert. Das steht in Ägypten für den Raubbau an der Gottgegebenen Natur, da die Ziegel aus der fruchtbaren Erde des wenigen Ackerlandes gebrannt werden. Salmas Familie steht synonym für viele Personen, die den sozialen Aufstieg zu Zeiten Nassers (1950er Jahre) geschafft haben. Dass dies zu Lasten des Landes und oftmals zu Lasten der eigenen Familien ging, reflektiert Eseddin in ihrem Roman. So stirbt der Vater von Salmas bester und einziger Jugendfreundin Gamila am Heizofen der Ziegelbrennerei. Rache und Sühne für die Ausbeutung?
Ein Mord. Ein Traum? Eine Vision?
Irgendwo zwischen Wut, Wehmut, Eifersucht und Zuneigung liegen die Gründe weshalb Salma ihre alte Freundin ersticht. Im Traum? Im Fiebertraum? In der Realität? Mansura Eseddin spielt mit Ebenen, Persönlichkeiten, Träumen und Andeutungen. Diese Kniffe machen aus 180 überschaubaren Seiten eine anhaltend faszinierende Reise in die ägyptische Gesellschaft für jeden, der Ägypten abseits der Orientalismus-Verklärung von Kairo kennenlernen will. Mein Weihnachtsgeschenk für Freunde, denen Analysen zu trocken sind und die einen tieferen, künstlerischen Einblick in dieses Land gewinnen möchten, ist schon vorgemerkt.
UnionsVerlag Zürich
Mansura Essedin wurde 1976 geboren. Sie hat ihr bisheriges Leben unter einem Herrscher führen müssen. Als Hosni Mubarak im Februar aus dem Amt gedrängt wurde, publizierte die Journalistin Essedin unaufhörlich. National wie international. Als Autorin wird sie mit ihren Büchern Ägypten weiterhin einen großen Gefallen tun. Ägypten hat eine weitere junge und weibliche Stimme. الحمد لله. Gott sei Dank.
Mansura Eseddin stellt ihr Buch am 12. November in Wien vor, gleich zweimal: Messe Wien, Halle D, Literaturcafe (12:45 Uhr) und im Republikanischen Club - Neues Österreich, Rockhgasse 1 (19:30 Uhr).
Am 14. November liest sie in Innsbruck: "Die Bäckerei- Kulturbackstube", Dreiheiligenstr. 21a (19:30 Uhr).