Erstellt am: 10. 11. 2011 - 15:08 Uhr
Leben nach Gebrauchsanweisung
Das Wort Alexithymie fällt in „Standby“ nie. Und doch handelt der Roman auf jeder Seite davon: von der Unfähigkeit, Gefühle zuzulassen, von einem Zustand, der keine Krankheit, sondern ein in unserer Gesellschaft weit verbreitetes emotionales Defizit beschreibt. Callcenter gehören zu den hochgradig emotional verrotteten Räumen der Arbeitswelt. Hier ist „Standby“ angesiedelt.
Klever Verlag
Der Roman handelt von einem Mann, der als Teamleiter in einem Callcenter arbeitet. Seine Aufgabe liegt in der Überwachung des Reglements: Einhaltung der Arbeitszeiten, keine privaten Beziehungen, Sauberkeit der Tische - mechanisch und dienst beflissen führt er diese Aufgaben aus. Selbst den Zufall teilt er in seinen Arbeitstag ein: akribisch achtet er darauf, morgens nicht zur immer gleichen Zeit die Stechuhr zu bedienen, sondern seine Ankunftszeiten minutenweise zu variieren. In die Martinis, die er sich abends mixt, gibt er genau drei Oliven. Was ihm fehlt, ist das, was man gemeinhin als Leben bezeichnet. Das Herz in seiner Brust scheint auch nur einer Arbeitsanweisung zu gehorchen, schlagen tut es nicht.
„Standby“ beginnt mit dem Verlassen des Callcenters am Freitag Abend und endet mit einem privaten Anruf am Montag Vormittag. So etwas wie einen Höhepunkt der Erzählung gibt es nicht, und das ist konsequent. „Standby“ spielt in einem lustleeren Arbeits- und Alltagsgefüge zwischen Großraumbüro, Fernsehen und einer auf dem Sofa schlafenden Ehefrau.
Der Mann ist einfach nur „der Mann“. Seine Ehefrau ist „die Frau“. Namentlich tauchen in „Standby“ zwei Callcentermitarbeiterinnen auf, Eva und Sabine. Mit einer von beiden ergibt sich eine sexuelle Handlung in einem Hinterhof, die in ihrer ganzen Künstlichkeit dem Verbot der privaten Beziehungen nicht zu widersprechen scheint. Sie ist genauso wie das Aufsetzen des Headsets am Morgen, nur ein Tool, das angewendet werden kann.
Daniel Wisser hat im Jahr 2003 seinen Debütroman „Dopplergasse 8“ im Verlag Ritter veröffentlicht. Er ist Herausgeber der Literaturzeitschrift „Der Pudel“ und Mitbegründer des Ersten Wiener Heimorgelorchesters. 2011 war er bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur für den Bachmannpreis nominiert. „Standby“ ist im Herbst 2011 im Verlag Klever erschienen.
nita tandon
Am Anfang, so Daniel Wisser, stand der Versuch, eine Sprache zu finden, von jemanden, der über einen Gebrauchanweisungstext ein normales Leben führen will, der also ein Manual dafür haben will, wie man normal ist. Eine Ehe, aber auch Affären, um zu testen, wie attraktiv man ist, und Wohlstand. Dieser Mensch muss das bewältigen, ohne seinem Innersten zu folgen, sondern indem er einer Gebrauchsanweisung folgt.
So liest sich „Standby“ zwar wie ein innerer Monolog, ist aber in der dritten Person geschrieben. Die Sprache, die Daniel Wisser für dieses Leben nach "Schema F" entwickelt, ist konsequent im Passiv und vermeidet Adjektive. Sie zeigt auf beängstigende Weise, dass man auch mit schwerem emotionalem Defizit in einer durchgeplanten (durchgeknallten?) (Callcenter-)Welt zurechtkommt, beziehungsweise: dass man vielleicht nur mit schwerem emotionalen Defizit darin zurechtkommt, ja die Form der Reglements diesen Zustand erst bedingt.
Der Mann – auch wenn er scheinbar nichts empfindet – bemerkt zumindest, dass diese Welt zum Himmel stinkt; und wartet auf die Apokalypse (die nie eintritt). Schweiß, Kot, Deos, Nikotin, Menstruationsblut werden von ihm allerorts erschnüffelt. Es ist ein perfider Einfall von Daniel Wisser, den Geruchssinn ins Spiel zu bringen. Denn die Gerüche sind wie Erinnerungsknoten an ein Leben, das diesen Namen auch verdient.