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Daniela Derntl

Diggin' Diversity

10. 11. 2011 - 15:37

"Mein erster Gedanke war: Gaskammer, nicht Cello"

Die Novemberpogrome 1938 waren der Auftakt zum Holocaust. Anita Lasker-Wallfisch hat zwei KZ überlebt, weil sie Cello spielen kann und Mitglied der Lagerkapelle wurde.

Anita Lasker-Wallfisch ist eine grauhaarige Dame von 86 Jahren, die mittlerweile nicht mehr so fit zu Fuß, aber nach wie vor hellwach im Geiste ist. Während des Interviews raucht sie eine Zigarette nach der anderen und wirkt, als könne sie nichts erschüttern. Doch bei ihrer Vergangenheit wundert das nicht: Sie war von 1943 bis Kriegsende in den Konzentrationslagern Auschwitz und Bergen-Belsen. Als Mitglied der Lagerkapelle blieb sie vor den Gaskammern und der Arbeit in den Fabriken verschont.

Ihre Erinnerungen an diese Zeit hat Anita Lasker-Wallfisch in dem Buch "Ihr sollt die Wahrheit erben" festgehalten, aus dem sie auch in österreichischen und deutschen Schulen vorliest. Bei ihrem letzten Wien-Besuch Anfang Oktober hab ich sie zum Interview getroffen.

Unter dem Begriff „Musikblock“ verstehe ich als Radiomacherin eine Folge von Songs. Doch für sie hat der Begriff eine völlig andere Bedeutung.

Anita Lasker-Wallfisch

CC / PumpingRudi

Anita Lasker-Wallfisch

Allerdings. Dort war die Lagerkapelle. Der Musikblock in Birkenau hatte die Nummer 12. Dass es in jedem Lager eine Kapelle gab, hab ich erst nach dem Krieg erfahren. Wir waren aber die einzige weibliche Kapelle und wir waren auch keine Berufsmusiker. Wir waren alle junge Mädchen, die mal irgendwo was gelernt haben. Da waren vielleicht fünf oder sechs junge Leute drinnen, bei denen man sagen konnte, die können ihre Instrumente spielen. Mit dem Resultat, dass die arme Alma Rose (Anm.: bekannte österr. Violistin zu der Zeit und die Nichte von Gustav Mahler) die Aufgabe hatte, aus uns irgendeinen Klangkörper zu machen, was gar nicht so einfach war.

Hat für Sie das Cello eine andere Bedeutung bekommen, weil es Ihnen das Leben gerettet hat?

Ich wollte immer Cellistin werden und okay, man hat mir acht Jahre gestohlen, aber die habe ich aufgeholt und habe dann gemacht, was ich immer machen wollte und bin Cellistin geworden. Ich habe es nie als Symbol empfunden. Aber es gibt furchtbar viele Cellisten in meiner Familie, mein Sohn und zwei meiner Enkel. Vielleicht ist es für die ein Symbol. Ohne das Cello gäbe es diese Menschen gar nicht.

Wie kann man sich das Leben in einem KZ-Orchester vorstellen? Zu welchen Gelegenheiten haben sie gespielt?

Unser Job war es, in der Früh und am Abend am Tor zu sitzen und Märsche für diejenigen zu spielen, die in die umliegenden Fabriken arbeiten gingen. Während des Tages waren wir die einzigen, die nicht auf Außenarbeit gegangen sind, denn wir mussten ja zuerst einmal etwas lernen. Wir haben also von früh bis spät gepaukt. Wir sollten ja auch zur Unterhaltung der Deutschen, der SS - ich sage immer Deutsche, aber die Österreicher waren ja auch dabei - spielen. Am Sonntag haben wir Konzerte gemacht, zwischen den beiden Lagern, das A und B Lager. Wir waren so quasi "The Showpiece". Sagen wir mal, es ist jemand gekommen, z.B. vom Roten Kreuz, dann hat man uns gezeigt und nicht die Gaskammern. Wir haben den ganzen Tag gespielt, von Früh bis Spät.

Sie haben ja auch für den "Todesengel" Dr. Mengele gespielt. Die Träumerei von Schumann zum Beispiel.

Das interessante ist ja, dass die Leute, die da am Ruder gesessen sind, keine ungebildeten Menschen waren. Dass ein Mengele überhaupt gewusst hat, dass es die Träumerei gibt. Das ist ja, was einem wirklich Angst machen kann. Die Leute, die oben waren haben ja alle studiert. Und Mengele hat eben ganz gerne Musik gehabt. Es ist sehr schwer nachzuvollziehen, was in den Gehirnen dieser Menschen vorgegangen ist. Und Mengele ist es gelungen, bis zu seinem natürlichen Ende im Exil zu leben, gar nicht mal so versteckt.

In Ihrem Buch schreiben Sie, dass Ihnen von anderen Häftlingen versichert wurde, dass Sie gerettet werden, weil Sie Cello spielen können. Haben Sie daran geglaubt?

Schwer zu sagen, was wir damals geglaubt haben. Wir haben von einer Minute zur anderen gelebt. Ich hab nicht erwartet, dass man mich in Auschwitz fragt ob ich Cello spielen will. Diese ganze Situation war so absurd. Es ist schwer zu sagen, was ich mir damals gedacht habe. Ob die wahnsinnig geworden sind - Cello spielen - ich bin jetzt in Auschwitz, hier sind die Gaskammern. Mein nächster Gedanke war: Gaskammer - nicht Cello spielen. Nach so vielen Jahren ist es schwer zu sagen, was ich damals empfunden habe, wenn ich überhaupt was empfunden habe. Es ging alles Schlag auf Schlag, das kann man sich ja kaum vorstellen.

Ja, man kann es sich kaum vorstellen. Ich bin in der Nähe des KZ Mauthausen aufgewachsen und meine Generation erfährt oft erst nach dem Tod der Großeltern, wie die sich damals verhalten haben. Das ist schrecklich. Deshalb ist es auch so wichtig, dass Sie noch immer darüber erzählen. Sie gehen ja auch in Schulen. Wie sind die Reaktionen dort?

Sehr gut eigentlich. Ich habe eine phantastische Sammlung von Briefen von Schulkindern. Ich bin nicht so oft in Österreich, ich bin öfters in Deutschland, und bin mir vollkommen bewusst, dass es sehr viele traumatisierte junge Menschen gibt, die plötzlich erfahren, was da in der eigenen Familie war. Darum ja das lange Schweigen. Wer konnte schon darüber sprechen. Auch da muss man wieder intelligent genug sein, einen Unterschied zu machen, mit Leuten die nichts gemacht haben, die aktiv dabei waren oder aktiv dagegen waren. Das ist sehr schwer heute rauszufinden. Jeder war natürlich ein Widerstandskämpfer, heute, nicht wahr? Aber vielleicht sollte man einfach jetzt den Vorhang zuziehen, denn es ist nichts mehr wieder gut zumachen. Das Wort Wiedergutmachung alleine ist schon ein Witz, nicht wahr? Was kann man schon wieder gut machen? Können Sie mir meine Eltern zurück bringen? Aber man kann es vielleicht besser machen jetzt.

Was meinen Sie mit "den Vorhang zuziehen"?

Junge Menschen, die von der Vergangenheit ihrer Großeltern traumatisiert sind, sollen nicht zu viel Zeit verlieren. Denn es bringt im Grunde nichts. Was war, war! Da können sie nichts daran ändern. Es ist schrecklich, damit zu leben. Die Jugend, diese Generation soll sich dessen bewusst sein, es besser zu machen als wie die Menschen es damals gemacht haben. Nicht vor Angst schlottern, vor einer Regierungen und Gesetzen und so weiter. Sondern, wenn etwas falsch ist, den Mut zu haben, nicht mitzumachen. So war das ja, jeder ist mitgerannt aus lauter Angst, was wird mit mir passieren, wenn ich nicht mit renne. Zivilcourage wäre ganz gut. Sich nicht alles gefallen lassen. Wenn man sieht, dass ein Unrecht geschieht, dass man eingreift und nicht sich denkt, wenn ich hier eingreife, wird mir auch was passieren. Es ist mir auch wichtig, den jungen Leuten zu sagen, dass es auch Widerstände gab, aber es gab nicht genug. Aber es gab junge Menschen, die nicht mitgemacht haben. Die haben allerdings alle mit ihrem Leben bezahlen müssen. Die meisten Menschen haben Angst vor ihrem eignen Schicksal.

Sie haben vorher die Briefe von den Schulkindern erwähnt. Was schreiben Ihnen denn die Kinder?

Ein Junge hat mir geschrieben, dass er eigentlich nicht zu meiner Lesung gehen wollte - schon wieder so eine alte Frau aus einem Lager, das hatte er alles schon gehört, langweilig. Aber er musste doch hingehen. Und er war mir sehr dankbar, denn zum ersten Mal hat er verstanden, was da eigentlich los war. Es ist schon sehr wichtig, die Begegnung mit jemanden, der wirklich dabei war, und nicht nur in Geschichtsbüchern zu lesen. Leider leben wir nicht für immer und in ein paar Jahren wird es nur noch in den Geschichtsbüchern stehen. Ein junger Mann hat mir geschrieben, dass er geglaubt hat, dass das immer meilenweit weg war, auf einem anderen Planeten. Plötzlich hat er eingesehen: Das war ja hier nebenan und vor gar nicht so langer Zeit. Vielleicht gelingt es mir, die Gehirne plötzlich aktiv zu machen. Man ist es so gewöhnt: Holocaust, schon wieder, Holocaust-Gedenktag und so weiter. Aber woran denkt man? An die Zukunft soll man denken, annehmen was war, und es besser machen.

Sie haben jetzt Gedenktag erwähnt. Es war der 15. April, an dem Bergen-Belsen befreit wurde...

Es gibt viele Gedenktage. Der wichtigste Gedenktag ist natürlich der 27. Januar. Da war die Befreiung von Auschwitz. Auschwitz ist zum Symbol geworden, für alles, was war, denn da war alles kombiniert. Das war ein Arbeitslager und ein Vernichtungslager. Dort ist alles passiert, was passieren kann.

Sie haben einmal gesagt, dass Sie daran zweifeln, dass Menschen aus der Geschichte lernen.

Ich glaube, Kriege wird es immer geben, Menschen werden sich immer mit Begeisterung totschlagen aus irgendwelchen Gründen. Doch es gibt die Gefahr, dass alles unter Genozid zusammenfasst, Holocaust included, Ruanda included. Wir sprechen hier über ganz andere Dinge. Es ist nicht das Gleiche! Für mich ist das das Wichtigste, die Genozide sind sehr verschieden. In Ruanda haben sich die Leute gegenseitig totgeschlagen, es war furchtbar, aber es war auf einen kleinen Ort konzentriert, manchmal ist es auch auf einen größeren Ort konzentriert. Aber noch nie ist ein Genozid dagewesen, wo man Menschen aus verschiedenen Ländern in Lager bringen konnte, weil sie jüdisch oder jüdischer Abstammung sind, um sie zu ermorden. Kaltblütig. Da wurde etwas erfunden, damit man das so sauber und schnell wie möglich macht, ohne psychologisch schwächenden Effekt für die Mörder. Sie kennen ja diese Rede, ich glaube von Goebbels, der gratuliert den Leuten, die diese entsetzlichen Ermordungen gemacht haben: "Ich weiß, es war sehr schwierig für euch, aber ihr seid trotzdem anständige Menschen geblieben." Wie können Sie so etwas verstehen? Wie kann man ein anständiger Mensch sein, wenn man sich den ganzen Tag damit beschäftigt, unschuldige Menschen nackt in Gräber zu schießen.

Sie glauben, dass der Nationalsozialismus in England nie möglich wäre. Weil die Engländer nicht so obrigkeitshörig wie die Deutschen und Österreicher sind?

Das ist Erziehungssache. In England ist man nicht so folgsam, auch in kleinen Dingen und diese kleinen Dinge sind manchmal gar nicht so unwichtig. Wie man über die Straße geht oder das und jenes nicht darf. In England kümmert man sich nicht so darum, Engländer sind irgendwie viel legerer. Dort lässt man sich nicht alles gefallen, lässt sich nicht so leicht unterkriegen.

Cover: "Ihr sollt die Wahrheit erben"

rororo

"Ihr sollt die Wahrheit erben" von Anita Lasker-Wallfisch ist auch als Taschenbbuch bei rororo erschienen.

Sie haben sich ja auch nie von ihrer Vergangenheit unterkriegen lassen. Sie haben das auch nicht verdrängt.

Das ist auch Erziehungssache. Ich hab immer schon ein sehr gut ausgebildetes Gefühl gehabt, für das was Richtig ist und für das, was Falsch ist. Ich habe mit so einer Inbrunst diese Menschen verachtet, die so etwas tun können. Ich war der Untermensch, aber für mich waren das die Untermenschen. Es kommt auf den Respekt vor anderen Menschen an. Wenn man die anderen Menschen respektiert, wird man sie nicht gleich totschlagen. Und vergessen sie nicht, die Welt sieht nicht sehr schön aus im Moment, man braucht nur den Fernseher aufzudrehen und sieht, wie viele Menschen dort oder da umgebracht worden sind, wie viele Menschen dort verhungern und so weiter. Was absolut nicht notwendig wäre, wenn man sich gegenseitig respektieren würde. Ich denke, das Wichtigste im Leben ist Respekt, vor sich und anderen Menschen, dann könnten wir viel besser miteinander auskommen.