Erstellt am: 8. 11. 2011 - 22:23 Uhr
Journal 2011. Eintrag 202.
2011 ist Journal-Jahr - wie schon 2003, 2005, 2007 und 2009. Das heißt: Ein täglicher Eintrag, der als Anregungs- und Denkfutter dienen soll, Fußball-Journal '11 inklusive.
Hier finden sich täglich Geschichten und/oder Analysen, die ich als passionierter Medien-Konsument selber gern gelesen/-sehen/-hört hätte, aber nirgendwo (oder nur unzureichend) finden konnte; und deshalb selber ausforschen und durchdenken muss.
Heute mit einem Rücksturz ins Jahr 1971.
Anlass: der Tod von Joe Frazier.
Kay war mein bester Schulfreund in dieser Zeit - Gymnasium, erste Klasse, mitten in der Selbstfindung, in der Zeit erster leiser Unabhängigkeit, die die neue Schul-Struktur (viele Lehrer, keine wirklichen Bezugspersonen mehr) nach sich zog, knapp vor der Pubertät, in dieser Phase, wo man neues Wissen sortieren, aber noch nicht einordnen kann, wo die Fantasiewelten und die Realwelt noch sanft kollidieren.
Kays Vater war der evangelische Pfarrer aus dem Nebenbezirk, seine Mutter befreudete sich mit meiner, auch unsere kleinen Schwestern kannten einander.
Mit Kay konnte ich enorm gut streiten; über eigentlich alles. Wir waren uns meist einig, dass wir uns nicht einig waren; das endete nicht selten in Rangeleien, zu Bruch gegangenen Gegenständen und Schrammen, die am nächsten Tag wieder vergessen waren.
Manchmal waren die Auseinandersetzungen tiefergehend und dann gab es eine Woche böse Blicke und Funkstille. An zwei dieser Wickel erinnere ich mit gut, sie fanden beiden 1971, also in der 1. Klasse statt.
Der eine Konflikt passierte rund um den Indo-Pakistani Krieg rund um die Unabhängigkeits-Erklärung von Bangladesh. Das vormalige Ostpakistan hatte sich von Pakistan gelöst, was zu einem Krieg zwischen Pakistan und der Schutzmacht Indien führte. Gut, diese beiden konnten sich noch nie recht leiden und hätten jeden Anlass genützt um ihre religiösen und politschen Differenzen auszutragen - letztlich kam der Krieg in Europa aber hauptsächlich als Loslösung eines kleinen, geknechteten und vernachlässigkeiten Landestteiles rüber.
Für mich war es also selbstverständlich zu Bangladesh zu halten. Nicht, weil George Harrison sein legendäres Benefiz-Konzert spielte - davon haben wir kaum etwas mitbekommen; und die avancierte Popmusik trat erst später, so rund um 1972 in mein Leben.
Kay war für Pakistan.
Keine Ahnung warum. Vielleicht auch nur um eine Gegenposition zu liefern. Wir waren 10einhalb (ich) bzw 11 (er), das wäre schlüssig. Und ich denke nicht, dass uns klar war wer diesen Krieg wirklich verschuldet hatte (die britischen Kolonialmacht und ihre Grenzziehungs-Willkür) auch weil unser gemütlicher English-Lehrer derlei nicht einmal ansatzweise thematisiert hatte.
Im anderen großen Konflikt des Jahres 1971 waren die Unterschiede deutlicher.
Ich war für Muhammad Ali, Kay für Joe Frazier.
Die beiden großen Boxer bestritten im März 71 einen TItelkampf, dessen Bedeutung sich bis zum uns in die Schule herunmgesprochen hatte.
Ali war Weltmeister, ehe ihm 67 der Titel aberkannt wurde, weil er sich weigerte dem Einrückungsberfehl nach Vietnam nachzukommen. Bis 1970 durfte er nicht boxen.
Ich hatte Ali als Cassius MarcellusClay kennen- und liebengelernt, was für ein Name... Ich war Ali eine Zeit lang böse für den Namenswechsel, ehe ich dann schrittweise kapierte, dass es für ihn die Loslösung aus der Versklavung symbolisierte (ich hatte Ben Hur gesehen...) und dass er damit gegen das Kriegs-System kämpfte
Frazier gewann in der Zeit von Alis erzwungener Abwesenheit den Titel - und 1971 kam es zum Showdown.
Das Camp rund um Ali nutzte die tatsächlich existierende Politisierung und machte aus Frazier einen Onkel Tom (wir hatten die Kinder-Version des Beecher-Stowe-Romans gelesen), eine Witzfigur, den braven Butler des weissen Mannes, den augenrollenden Bückling. Joe Frazier war wahrscheinlich wirklich nie ein Aufbegehrender, wurde hier aber künstlich in eine Rolle gedrängt.
Wahrscheinlich habe aber ich nur wegen dieser Überzeichnung kapiert worum es im März 1971 ging. Nicht um einen Titelkampf im Schwergewicht, sondern um einen ideologischen Gipfel, um den Fight des Rebellenführers Ali gegen das Establishment, das von Frazier, dem willfährigen "guten Neger" (wie das damals öffentlich hiess) vertreten wurde.
Die Rollen waren klar verteilt - und auch die Gräben zwischen mir und Kay. Ali verlor diesen Kampf und ich litt monatelang wirkliche Qualen. Erst der Rumble in the jungle 1974, als sich Ali den Titel retourholte, und der Thrilla von Manila von 1975, der beste Fight aller Zeiten, als Ali Frazier auf Distanz hielt, brachten Erlösung.
Hinter all unseren mit kindlichem Ernst und pseudoerwachsenem Quatsch geführten Auseinandersetzungen stand ein großer Konflikt, der diese Stellvertreter-Kriege ermöglichte: Anfang der 70er holte die neue Regierung Kreisky Österreich aus den 50ern in die Gegenwart. Und weil Kay da seinem Vater in der (bürgerlichen) Ablehnung Kreisky gegenüber folgte und ich meinem Vater in der (proletarischen) Huldigung Kreiskys folgte, zog sich diese Sperrlinie durch unseren gesamten Alltag.
Im Nachhinein war ich immer erstaunt von der massiven Politisierung, die uns da als kaum der Volksschule entwachsenen widerfahren ist. Es hat aber wohl damit zu tun, dass dieser Diskurs (für oder gegen die Reform-Politik) einfach ein gesellschaftsweiter uind übergreifender war, eine so wichtige Diskussion, dass sie eben von allen geführt wurde, auch von kaum-was-wissenden Schulbuben.
Trotzdem hat in dieser Mixtur als Ahnung, Gefühligkeit und Parteinahme für die Untergebutterten fast alles gestimmt. Das finde ich genauso erstaunlich. Die Anfangsjahre der Kreisky-Ära haben zehn Jahre in ein paar Monaten aufgeholt. Bangladesh ist völlig zurecht unabhängig geworden. Und Muhammad Ali ist der offizielle Weltsportler des letzten Jahrhunderts.
Dass Joe Frazier ein wenig Unrecht getan wurde, hab ich in den später 70ern begriffen, als er und Ali und Foreman von einer neuen Generation an zwar technisch guten, aber inhaltlich mediokren Figuren abgelöst wurden, die den Boxsport systematisch in Richtung Firlefanz abdriften liessen.
Frazier bezeichnete Ali in seiner Biografie zwar immer als Cassius Clay, einfach um ihn zu ärgern, aber nur, weil er nicht bei der Nation of Islam oder eine Bürgerrechtsbewegung war, bedeutet das nicht, dass er als das leuchtende Onkel Tom-Symbol für den zukreuzekriechenden schwachen Schwarzen diffamiert werden durfte.
Aber erst 2001, als es einen Show-Kampf zwischen Fraziers Tochter Jackie und Alis Tochter Laila gab, wurde ich wieder massiv an die alten Bruchlinien erinnert.
Ali hat Parkinson und sieht wohl täglich dem Tod ins Auge.
Kay ist heute Schach-ÖM, hat ein Rating von 2217, das ist verdammt gut, hab ich mir sagen lassen. Er ist Lehrer geworden, besser das, was man altmodisch Erzieher nennt, in diversen Brennpunkt-Schulen, etwa auf HTLs im Wiener Umland. Er geht also weiter keinem Konflikt aus dem Weg.
Onkel Joe Frazier ist dieser Tage an Krebs gestorben.