Erstellt am: 9. 11. 2011 - 11:14 Uhr
Bermuda bei Nacht
Es ist ja nicht so, dass man es noch nicht wusste. Dass man an den weltweiten Orten, an denen elektronische Musik Relevanz hat, nicht mitbekommen hätte, wo der Nabel der Nachtclubwelt liegt, nämlich im Nordosten Europas, in Berlin.

Berlin Music Days
Falls aber jemand auf der Welt, irgendjemand, noch nicht weiß, dass Berghain, Watergate & Co. dem Brandenburger Tor und Checkpoint Charlie als Touristenmagnete längst ebenbürtig sind und die Berliner Hotels aus gutem Grund auf Late-Checkout und langes Frühstück setzen, für den gibt es die Berlin Music Days, kurz genannt Bermuda. Vor drei Jahren als kurzfristiger Ersatz für eine ausgefallene Popkomm gegründet, sind die Bermuda mittlerweile ein weiterer Fixpunkt im auch sonst nicht fixpunktarmen Berliner November, Herbst, Jahr.

Chiara Ernandes
Mehr ist mehr
Alle Daten stammen aus Statistiken des Deutschen Bundesverband Musikindustrie.
Berghain, Weekend, Tresor, da geht noch mehr? Gretchen, Wilde Renate, KaterHolzig, Ritter Butzke, Horst Krzbrg, auch alle diese Clubs haben mehr zu bieten als originelle Namen. Sie bestechen durch spezielles Ambiente, gutes Soundsystem und liebevolle Einrichtung. Woche für Woche umgarnen sie die Einheimischen und Besucher der deutschen Hauptstadt, welche bis zu 70% des Publikums ausmachen, mit internationalen und nationalen Bookings. Letztere lesen sich mitunter wie das Who´s Who der gesamten Techno-Szene; nicht umsonst gibt es in dieser Stadt unfassbare über 500 Labels, 250 Event-Locations und bis zu 1200 DJs (wie erhebt man diese Zahl eigentlich?).
Bei bis zu 30 ähnlich gepolten Veranstaltungen pro Abend, die um das gleiche Publikum kämpfen, setzt man bis auf wenige Ausnahmen statt auf mutige Bookings also lieber auf sichere Wetten und große Namen, denn Ellen Allien, M.A.N.D.Y. oder Booka Shade haben vielleicht auch der britische Geschäftsmann, der mit seinen Kumpels hier Polterabend feiert und der amerikanische Rucksacktourist schon mal gehört. Die Großen spielen oft und gerne in der Stadt, und während der Berlin Music Days ist das nicht anders.

Robert Wunsch
„Berlin mag ein Anziehungspunkt für junge Kreative sein, aber es dauert doch recht lange, bis man als aufsteigender Künstler für seine Erfolge auch gefeiert wird. Die großen Namen sind hier ungleich stärker als in anderen Ländern“ sagt Adam Port, polnischstämmiger Berliner, der mit zahlreichen Releases und seinem Label KeineMusik seit ein paar Jahren am Absprung ist. Allein durch einen schnellen Blick auf die wöchentlichen Party-Bookings bemerkt man, dass Dubstep und andere Spielarten der neuen Bass Music hier noch kaum Fuß gefasst haben, neue Musikstile und die dazugehörigen Neologismen kommen nach wie vor hauptsächlich aus London.
BerMuNights & ...
Die Berlin Music Days also wollen den Fokus der ausländischen Partywelt einmal mal mehr auf die deutsche Hauptstadt richten. 37 Clubs nehmen an dem Festival teil, von denen jeder die eigenen Abende selbst bucht, um dann im gemeinsamen Programmheft aufzuscheinen. Gesamttickets für die Besucher gibt es bei den Bermuda keines; wer auf Erkundungstour durch verschiedene Clubs ziehen will, muss mehrmals Eintritt zahlen. Die Organisatoren begründen das mit der sehr unterschiedlichen Türpolitik der einzelnen Venues und mit dem zu erwartenden Problem, dass bei einem Gesamt-Armbändchen in einer Nacht früher oder später doch nur wieder alle an die Türen der gleichen, bekanntesten Locations klopfen und auf den Einlass dann auch bestehen würden.
Die Fotos stammen von Chiara Ernandes. Danke!

Chiara Ernandes
Sie haben vermutlich Recht, schade ist das trotzdem, denn eben das Hin- und Her-Hetzen zwischen den einzelnen Bühnen macht ja ein Festival aus und würde Bermuda-TeilnehmerInnen die Chance geben, noch mehr von der angepriesenen Vielfalt des hiesigen Nachtlebens mitzubekommen. So sind an diesem Wochenende im November die üblichen Verdächtigen in Berlins Taxis unterwegs, und wer von ihnen wegen der Bermuda hierher gekommen ist, lässt sich praktisch nicht eruieren. Jedenfalls kann man im Laufe der vier Nächte von Mittwoch bis Sonntag so einiges erleben, die alten Berliner Technohelden Gudrun Gut und Thomas Fehlmann im Tresor etwa, 2562 und Machinedrum im eher abgelegenen Gretchen, eine Raster-Noton-Supergroup im Technotempel Berghain oder im KaterHolzig die sehr aufwändige Synthesizer-Performance von Schneidersladen, bei der sechs sich im Kreis drehende Modularsynthesizer aneinander geschlossen und von vier Personen gespielt werden. Schwierig klingt das, und sehr spannend.

Chiara Ernandes
...BerMuDays

Chiara Ernandes
Tagesprogramm gibt es bei den Bermuda auch. Das all2gethernow-Camp kümmert sich in Kooperation mit dem globalen Netzwerk Unconvention um Workshops, Vorträge und Diskussionen. Es geht um DIY vs. Do-it-together, alternative Lizenzierungs- und Vergütungsmodelle und darum, warum die Gema "nicht doof ist". Dazu diskutiert man die berechtigte Frage "Warum bekommt Dieter Bohlen mein Geld?" - das Tagesprogramm ist zweifellos der große Pluspunkt der Bermuda. Auch der Avantgarde-Pop-Denker Bill Drummond schaut zu einer Performance und einem Gespräch vorbei - ein solches kann man demnächst auch bei Natalie Brunner nachhören.
Bei den Techniktagen der deutschen Elektronik-Bibel De:Bug kann man von Menschen wie Phon.O oder anderen Auskennern etwas über Ableton Live oder iPad Touchable lernen und das sehr supere, in mittlerweile sechs, bald auch in zwölf Städten stattfindende Musikdokumentarfilm-Festival In-Edit zeigt tagsüber Filme über Arthur Russel, frühe Warehouse-Raves und - die Berliner Clubszene. So schließt sich der Kreis.
Im Rahmen der Unconvention Factory verwandelte sich die Galerie des KaterHolzig in ein Produktionsstudio, in dem an einem Tag ein ganzes Album von der Aufnahme bis zu Mastering, Coverdesign und Distribution erstellt wurde. Mehr dazu gibt es am So., 13.11. in Connected zu hören.
Flieg, Bermuda!

Fly Bermuda
Den Abschluss der Berlin Music Days bildet Jahr für Jahr das Fly Bermuda Festival in den Hangars des ehemaligen Flughafen Tempelhof. Sven Väth, Ricardo Villalobos, Loco Dice, Moonbootica, die großen deutschen Technoaushängeschilder sind alle mit dabei. Auch wessen Vorstellung eines perfekten Samstagabends dies nicht unbedingt entspricht, muss sich das zumindest ansehen, und gefühlte 10 000 Menschen haben den gleichen Plan. Sehr dicke alles, der Sound, die Menschenmassen, die Visuals. Mit Abstand am besten ist die Live-Show von Richie Hawtin als Plastikman, der seinen elektronischen Zukunftsvisionen hinter einer gigantischen Videowall wie üblich eindrucksvoll Ausdruck verleiht.

Chiara Ernandes
"Wenn ein Club in Berlin zusperren muss, zieht er eben weiter. Man kann Kreativität nicht auf einen bestimmten Ort limitieren." Florian Drücke, CEO des Bundesverband Musikindustrie, hat Recht. Gerade in Berlin haben Clubs oft auf wenige Jahre befristete Pachtverträge, aber das Fehlen von Sperrstundenregelungen, Vergnügungssteuer und sonstigen gesetzlichen Steinen im Weg von Veranstaltungen sowie das scheinbar endlose Angebot an leerstehenden Fabrikshallen, Elektrizitätswerken oder Squats lassen das Berliner Nachtleben stetig gedeihen und immer neu erblühen. Darauf haben die Berlin Music Days wieder einmal aufmerksam gemacht. Nicht, dass wir es noch nicht wussten.

Chiara Ernandes