Erstellt am: 5. 11. 2011 - 13:59 Uhr
Einstürzende Welten
Heinrich von Kleist und Henriette Vogel erschossen sich, nachdem sie einen vergnügten Tag bei Wein, Kaffee und Rum miteinander verlebt hatten. Dieses Ereignis jährt sich nun zum zweihundertsten Mal und aus diesem Anlass findet ab dem 4. November im Berliner Gorki Theater ein großes Kleist-Festival statt.
Bettina Stöß
Kleist ist vielen Deutschen und Berlinern eher unbekannt. Zwar liest man von dem zu Lebzeiten recht erfolglosen Dichter in der Schule das Stück über die Stalkerin "Käthchen von Heilbronn" und die Erzählung vom Wutbürger "Michael Kohlhaas", aber so richtig was anfangen können die Wenigsten mit diesem seltsamsten aller deutschen Klassiker. Nur sein früher Tod durch eigene Hand, die Verbindung zu der verheirateten Henriette Vogel, die freiwillig mit ihm aus dem Leben schied, sind im Gedächtnis geblieben. Bevor es sich erschoss, schrieb sich das Paar noch gegenseitige Liebkosungen in den "Todeslitaneien", Kleist berichtete in seinen letzten Briefen an Vertraute, mit welch unaussprechlicher Heiterkeit er seinem Tod entgegen sehe, aber er schrieb auch die bitteren Zeilen: "Die Wahrheit ist, daß mir auf Erden nicht zu helfen war."
Kleist ist der getriebene, rastlose, gescheiterte Klassiker, seine Texte handeln von Welten, die zusammenfallen, von seiner eigenen "eigentümlichen Beschaffenheit" die ihn an der "gebrechlichen Einrichtung der Welt" scheitern ließ.
Wäre Kleist nicht mit 34 gestorben, man könnt ihn glatt zu dem Club 27, zu Amy Wineheouse, Kurt Cobain, Jim Morisson, Janis Joplin, Jimmy Hendrix rechnen. Seine Stücke und Erzählungen handeln von Unrecht und Selbstermächtigung, von sexueller Nötigung und Erpressung wie im "Zerbrochenen Krug", von Vergewaltigung einer bewusstlosen Frau in der "Marquise von O.". Sie handeln von versteckter und expliziter Gewalt, wimmeln von Sündenfällen und sexuellen Übergriffen zwischen den Ständen.
Bettina Stöß
Die Vorkommnisse zwischen Levi Strauss-Kahn und dem afrikanischen Zimmermädchen in der New Yorker Hotelsuite wären ein ausgezeichneter Kleist-Stoff. Bei Kleist können jedoch die Opfer mit ihrer Radikalität und Beharrlichkeit ihre Schwäche in Stärke wenden. Das Berliner Gorki Theater hat nun einiges aufgefahren, um an den toten unglücklichen Dichter zu erinnern. 18 Tage lang verwandelt sich das Theaterareal in eine komplexe Kleistwelt:
10 Kleist-Premieren, Rauminstallationen, Performances, Videoinstallationen, ein Hörspiel-Parcours am Todesort Wannsee samt akustischem Kleist-Denkmal. Elektro-Musiker Schneider Tm hat sich von Kleists "Cäcilie" zu einem 24-stündigen Konzert inspirieren lassen. Das Gorki Theater macht theaterpädagogische Angebote zu Kleist, vor Ort tagt die Internationale Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft, Filmadaptionen und Dokumentationen werden gezeigt, Podiumsgespräche werden geführt.
Forensiker halten Vorträge zum Kleist-Selbstmord im Spiegel der Rechtsmedizin, Anästhesisten sprechen über Erinnerung und Narkose, Tsunami-Forscher referieren zum Tsunami in Portugal, der 1755 Lissabon zerstörte und die Vorlage für die Erzählung "Das Erdbeben von Chili" ist. Darin zeichnet Kleist eine autoritäre Welt, die in sich zusammen fällt. Einstürzende Welten können also auch eine Chance sein.