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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

3. 11. 2011 - 23:25

Fußball-Journal '11-122.

Mann des Spieltags: Marcelo Bielsa.

Bundesliga, Meisterschaft und der Cup, der ÖFB und das Nationalteam, das europäische Geschäft, der Nachwuchs und die vielen Irrsinnigkeiten im Umfeld: Das Fußball-Journal '11 begleitet wie 2010 auch das heurige Jahr wieder ungeschönt und ohne Rücksichtnahme auf Skandalisierungen und Stillhalte-Abkommen, die den heimischen Fußball-Journalismus so mutlos daherkommen lassen.

Heute mit der besten Performance des Europa-League-Spieltags; der von Marcelo Bielsa.

Hier noch ein Reality Check der Salzburger Leistung. Und bei ballverliebt.eu gibts die Match-Analyse.

Die beiden Zufalls-Unentschieden von Austria und Salzburg beim letzten Spieltag hatten den Blendern der heimischen Fußball-Szene ja noch Anlass geboten, die alte Schimäre von Glück und Pech aus der Mottenkiste zu holen.

Der 4. Spieltag erzählt die wahre Geschichte: Das aktuelle Potential reicht für den sicheren 3. Platz in den Gruppen, bei der spielstarken Austria vielleicht noch der zweite, immerhin, mehr geht nicht.

Für dieses "mehr" bräuchte es ein "mehr" an Einsicht und ein "deutlich-weniger" an Beleidigtheit und Gejammer über imaginierte Benachteiligungen. Etwas, was aktuell in Salzburg für mimosenhafte Traumtänze sorgt und sich am besten an eingeschnappten Maierhofers manifestiert.

Diese Reaktion auf verdiente Niederlagen ist es im Übrigen, die dafür sorgt, dass nichts besser wird, sondern die fatalen Klischees vom "Kampf", dem "Beißen" und all anderen "more of the same"-Lösungen perpetuiert.
Scheinlösungen, die sich aufs Glück verlassen, wie es seit der 78er Generation in Österreich fixe Folklore ist.

Anfang der 80er haben Verantwortliche wie Trainer aufgehört sich mittels Feldforschung weiterzubilden bzw. das zu fördern; stattdessen wird ein (billiges) Kerzerl angezündet, mittels dessen man um eine talentierte Generation bittet.

Bauchweh, Kerzerln, Scheinlösungen

Nur in einer Atmosphäre wie dieser kann die Installation eines eher biederen Trainers mit zeitgemäßen Ansätzen als Teamchef bereits für erhebliches Bauchweh sorgen, sagt Matthias Nagl in der Wiener Zeitung. In seiner Geschichte geht es um das Gegenteil dieser Biederkeit, es geht um Marcelo Bielsa.

Der Argentinier Bielsa hat, nachdem er mit Argentinien Olympiasieger und mit Chile die Sensation der letzten WM war, im Sommer den untrainierbaren Verein Athletic Bilbao übernommen. Auch weil dieser Klub letztlich wie eine Nationalmannschaft (die baskische) funktioniert; die liegen Bielsa besser, weil sie den kollektiven Gedanken, den er seinen Mannschaften implantiert, effektiver ausleben können; größeres Identifikations-Potential.

Für einen Verein wie Athletic Bilbao, wo ein archaischer Nationalstolz die Teilnahme von nichtbaskischen Spielern verbietet, ist Bielsa also optimal. Bis auf diese nationalistische Einschränkung ist nämlich alles möglich.

Spion Nagl erzählt von einer laptopunterstützten Trainingseinheit, bei der Bielsas Assistenten den Rasen Gegner-Attrappen mit vollgestellt hatten und einen Teil des Feldes in Zonen unterteilten - alles Maßnahmen, die in Österreich, wo schon ein Facebook-Profil für Entsetzen sorgt, Herzinfarkt-Gefahr für die alte Garde bedeuten.
Und die internationalen Berichte über Bielsas Revolution beim zuvor so altmodisch britisch spielenden Athletic Club sprechen in einer ehrfürchtigen Tonlage.

Nationalistisch, laptopgesteuert, offensivbestialisch

Marcelo Bielsa macht genau deswegen den Unterschied.
Bielsa steht nicht nur für die Notwendigkeit einer klaren Spiel-Philosophie, es ist auch sein Bild, das neben dem Terminus "akribischer Arbeiter" im Lexikon zu sehen ist.

Bielsa ist der Innovator, den die Schisser dann "loco" nennen müssen, Bielsa ist die Antithese zu allen Schönrednern, Sichaufsglückverlassern, Modernisierungsverweigerern und Sonstnochgestrigen.

Bielsa formt Mannschaften, die innerhalb von 90 Minuten drei verschiedene Systeme abrufen können und trotzdem nicht die Grund-Philosophie aus den Augen zu verlieren.

Marcelo Bielsa fordert von seinen Teams, dass sie nach vorne spielen, offensiv flexibel denken und agieren und dieselbe Spielintelligenz in die Defensive legen.

Bielsa hat aus der seit Jahren in der mausgrauen Isolation gefangenen Mannschaft aus Bilbao eine buntflirrende Offensiv-Bestie gemacht; also eine Mannschaft, die die satte und selbstzufriedene, dauerpampige Salzburger Truppe deutlich überspielte; eine seit Wochen unbesiegte Mannschaft, die sich bereits jetzt für den europäischen Frühling qualifiziert hat.

Das ging nicht von heute auf morgen, Bielsas Anfänge in Bilbao waren holprig, irgendwie klappte es nicht mit der von ihm zuletzt favorisierten Dreierkette (Bielsa hat ja, ziemlich im Alleingang die rundumerneuerte Dreier-Abwehr wieder salonfähig gemacht) - also verordnete Bielsa Bilbao ein 4-2-3-1, das er gegen Gegner wie Salzburg, die man schon mittels Präsenz besiegen kann, auf ein 4-1-4-1 umstellt.

Das Gegenmodell zur schieren Schicksalsergebenheit

Und wieder beherzigt ein Bielsa-Team das Prinzip Systeme problemlos switchen zu können; und wieder ist das ein Fortschritt, der mit normalen Fußball-Maßstäben gar nicht zu messen ist.

Bielsa vermittelt in jeder Hinsicht eine Intelligenz, die die Schicksalsergebenheit, hinter der sich die hiesige Trainer-/Experten-Lobby verschanzt, Hohn spottet. Denn natürlich ist das, was hierzulande als reines Lippenbekenntnis abgeht ("eine Mannschaft entwickeln", "ein Team formen") auch tatsächlich möglich.

Am Wochenende darauf bestätigt Bielsa seine Leistung mit einem 2:2 gegen das übermächtige Barcelona - hier die Zonalmarking-Analyse.

Während die österreichische Öffentlichkeit aber glaubt, dass ein Dutzend brauchbare Spiele unter einem Anfänger schon etwas Großes bedeuten und diesen Trainer dann wohl dazu bringen wird, stehenzubleiben (entwicklungstechnisch), steht Bielsa für das lebenslange Lernen und Experimentieren, den festen Glauben an Verbesserungs-Potential, die Liebe zu unbeschrittenen Zugängen, die Überwindung von Bequemlichkeit und den Mut zur Beharrlichkeit.
Das klappt natürlich nur dann, wenn man sich wie Bielsa einerseits immer wieder riskanten Situationen/Jobs aussetzt und andererseits völlig freie Hand fordert (und erhält); keine Kompromisse eingeht.
Unösterreichischer geht es also nicht.
Wohl deshalb ist der Salzburger Auftritt der von Bielsa so gescheit gesteuerten Mannschaft der nachhaltigste eines Gastteams seit Jahren.