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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

1. 11. 2011 - 21:39

Journal 2011. Eintrag 198.

Fluide Demokratie. Der Elchtest im Startfenster.

2011 ist Journal-Jahr - wie schon 2003, 2005, 2007 und 2009. Das heißt: Ein täglicher Eintrag, der als Anregungs- und Denkfutter dienen soll, Fußball-Journal '11 inklusive.

Hier finden sich täglich Geschichten und/oder Analysen, die ich als passionierter Medien-Konsument selber gern gelesen/-sehen/-hört hätte, aber nirgendwo (oder nur unzureichend) finden konnte; und deshalb selber ausforschen und durchdenken muss.

Heute mit einem Denk-Experiment zur Erneuerung demokratischer Prozesse, das in Deutschland bereits in erste Praxis-Tests geht.

Siehe auch

In diesem Zusammenhang fällt mir die Verflüssigungs-These von Camille de Toledo, und dessen Buch "Goodbye Tristesse" (im Original "Archimondain Jolipunk") von 2002 ein. Nur so, rein assoziativ.

Ich solle, wenn ich in deutsche Verhältnisse reinstöbere, nicht so oft den Vorbild-Charakter betonen, teilen mir gutmeinende Journal-User mit; auch weil in Deutschland oft Österreich als deutlich vorbildhafter angesehen wäre.
Ich kann mir ein paar Ausnahmen vorstellen. In puncto Demokratiepolitik und partizipativer Reife sieht es aber, darauf möchte ich beharren, nach einer ganz eindeutigen Rollen-Verteilung aus.
Nehmen wir nur das Modell der fluiden Demokratie. In Deutschland wird das ausprobiert und weitergedacht - in Österreich sind selbst die Basics noch reine Hieroglyphen.

Während in Österreich nämlich sogar die VP-nahe Schüler-Union die Gesamtschule aus ideologischen Gründen ablehnt (und damit innerparteilich die reaktionärste Position einnimmt), fällt beim Nachbarn gerade eine andere, bislang aus rein ideologischen Positionierungs-Gründen aufrechterhaltene Trutzburg - die CDU denkt laut (und von Experten aller Couleurs unterstützt) über die Mindestsicherung nach.
Diese Übernahme alter sozialdemokratischer Forderungen ist nicht sonderlich taktisch kalkuliert, sondern schlicht notwendig.
Und sie ist Teil einer Gesamtüberlegung, die wohl zur Rettung der Demokratie dient; einer Strategie, in der Offenheit und Transparenz als Gegengewicht zur dringend nötigen Regulierung angeboten werden.

"Ein ganz tolles Volk also!"

Wenn die Regierung ein Volk hätte, das sie zu mehr Mitbestimmung, zu mehr Selbstbestimmung, zu mehr Kontrolle zwingt; ein Volk, das sich informiert, sich eine Meinung bildet und die Regierung fordert. Das nicht fragt, was kriegen wir? Sondern sagt: Das wollen wir. Ein Volk, das sich wünscht europäisch zu sein und offene Grenzen nicht fürchtet. Ein ganz tolles Volk also. Ach so. Dann wäre nicht so wichtig, wer unter solch einem Volk Kanzler ist. fasst die Leitartiklerin der FR diese Tendenz zusammen.

Nur: das, was sie da als scheinbar utopischen Wahnsinn beschreibt, gibt es bereits.
Die Piraten, die die parteipolitisch Bewegten, denen etwas an ihrer Demokratie liegt, aktuell intensiv unter dem Recherche-Mikroskop beäugen (ebenso wie die Occupy-Bewegungen im übrigen; und oft mit völlig falschen Schlüssen - aber das ist eine andere Geschichte...) praktizieren das.

Das vielbelächelte Konzept der "Fluid Democracy" nämlich, das so "crazy" daherkommt, beginnt bereits seine Wirkungsmacht zu entfalten. In Berlin und, wegen der eben erwähnten Szene-Hysterie der 7%-Umfragewerte, damit auch in ganz Deutschland.

Wie das geht, beschreibt heute die taz die sich auf den Politologen Sebastian Jabbusch und dessen Magisterarbeit bezieht.

Ganz wie in einer permanenten Schweiz

Folgende Kernpunkte:
1) Öffentliche Aussagen einzelner Vertreter der Piraten sind möglich, aber irrelevant.
2) Keine Aussage jenseits des basisdemokratisch beschlossenen Parteiprogramms oder abgesegneter Positionspapiere ist gültig.
3) Positionen zu allen relevanten Fragen kommen einzig durch Abstimmungen aller Parteimitglieder, via Internet und streng basisdemokratisch, zustande.
4) Parteifunktionäre sind keine Entscheider, sondern Koordinatoren.
5) Die Piratenpartei ist für Menschen, die von einem Kollektiv wissen wollen, was sie zu denken haben, ungeeignet.
6) Die Piratenpartei fordert von ihren Mitgliedern Haltung und Meinung, wie in einer kleinen Schweiz.
7) Jedes Parteimitglied kann entscheiden, ob es eigene Interessen selbst wahrnehmen will oder seine Stimme an andere delegiert.

Das klingt haarsträubend, arbeitet mit der vielgelobten aber auch vielkritisierten Schwarm-Intelligenz und birgt viele Gefahren.
Mir wäre aber kein handhabbarerer Vorschlag, die Parteien-Demokratie aufs nächste Level zu bekommen, bekannt.

Natürlich besteht bei einer solchen Struktur auch die Gefahr der Kaperung und Unterwanderung. Es gibt etwa Anzeichen dafür dass sich Scientology Deutschland bei den Piraten einschleichen will; aber auch Modelle sich dagegen zu wehren.

Keine Sorge, ich gehöre auch zu jenen, die das Fehlen eines strategischen Zentrums als potentiell problematisch einsortieren.
Die zentrale Frage ist, ob dann, wenn niemand eine grundsätzliche ideologische Richtung vorgibt, ein kontunuierliches, aufbauendes Handeln und Wirken überhaupt möglich ist.
Andererseits, und da komme ich auf das aktuelle Beispiel der Grundsicherung zurück, gerade die aktuelle deutsche Politik verfährt bereits zum Großteil nach antiideologischen Prinzipien.

Einer verlöre damit sein aktuelles Geschäfts-Modell:

Haupt-Knackpunkt: die Medien. Die haben am schwersten damit zu kämpfen etwas zu vermitteln, was ihre Weltsicht und ihre Arbeitsweise ad absurdum führen wird. Wenn die Verlage und Anstalten keine politischen Big Players mehr zur Verfügung haben, mit denen sie Schlagzeilen, Geschäfte und Exklusivitäts-Geschichten machen können, fällt ein Teil ihrer Macht wie ein Kartenhaus zusammen.
Die Tatsache, dass die Meinungen der Parteispitzen nicht mehr Relevanz hätten als die Meinung der bei Straßenbefragungen gern vorgeführten Volldeppen, stört ihr Geschäftsmodell massiv.

Und so wie sie natürlich auch die Konzerne und die Lobbyisten.

Am Donnerstag im RadioKulturhaus wird im übrigen zum Thema Wenn du mich nicht begehrst, verlasse ich dich, deine Demokratie! diskutiert.

Das Modell der fluiden Demokratie, in dem nicht mehr ein paar Ideologen allen sagen, was sie gefälligst zu denken hätten, sondern von allen Beteiligten selber Auseinandersetzung verlangt wird (siehe das FR-Zitat von Brigitte Fehrle weiter oben), gefährdet auch ihre Positionen.

Wohl deshalb taucht das Modell auch genau jetzt, in einer Zeit, in der mittlerweile so gut wie alle demokratisch relevanten Kräfte einig sind, wo sich der einzige Ausweg befindet; dem historisch vielleicht einmaligen Startfenster für die Erneuerung der Demokratie alter Bauart.