Erstellt am: 6. 11. 2011 - 09:32 Uhr
Der Doktor und sein Diamant
"Es ist sehr gut denkbar, dass die Herrlichkeit des Lebens um jeden und immer in ihrer ganzen Fülle bereit liegt."
(Franz Kafka, Tagebücher, 1921)
In Graal-Müritz soll sich der Herr Doktor, wie er von allen genannt wird, ein bisschen erholen. Wir schreiben das Jahr 1923 und die Tuberkulose ist bei ihm weit fortgeschritten. Noch beeinträchtigt sie ihn nicht beim Schreiben, oder schlimmer: gar beim Flirten mit den jungen Damen. Denn der stille Eigenbrötler hat ein Auge auf die Mädchen im Kurort geworfen. Vor allem eine Brünette hat es ihm angetan: Dora Diamant, eine Kindergärtnerin. Die Zuneigung beruht auf Gegenseitigkeit und Dora nennt den Herrn Doktor auch als Einzige bei seinem richtigen Namen: Franz Kafka.
Kiepenheuer & Witsch
Die Liebesbeziehung zwischen Franz und Dora steht unter keinem guten Stern: Sie ist gerade Mal Mitte zwanzig, er bereits vierzig. Hinzu kommt, dass sich sein Zustand in Graal-Müritz kaum bessert: Er weigert sich zu essen, hat ständig erhöhte Temperatur und sein Husten wird von Tag zu Tag schlimmer. Die Abreise nach Berlin steht kurz bevor, Kafkas Schwestern drängen schon. Aber die vorsichtig lodernde Liebesflamme zwischen Franz und Dora wird größer: Sie versprechen sich die Treue, schreiben sich trotz großer Entfernung jeden Tag mindestens drei Briefe. Das Liebesglück soll Ende des Jahres perfekt werden: Das Paar will in Berlin zusammenziehen.
Wenn er schreibt, ist er unausstehlich
Kiepenheuer & Witsch
Franz Kafka und Dora Diamant müssen in Berlin mehrmals umziehen. Kaum ein Vermieter duldet das in Lebensjahren so ungleiche Paar, Kafka kommt kaum noch zum Schreiben. In diesem Moment ist Dora dem Autor aber so nahe wie kaum eine Frau zuvor: Sie sieht ihn mit sich hadern, nächtelang wachliegen, immer und immer wieder Entwürfe verwerfen. Sein Zustand verschlechtert sich inzwischen weiter: An ihrem 26. Geburtstag will er ihr ein eigens verfasstes Gedicht vortragen und wird stattdessen von einem Hustenanfall bestehend aus Blut und Schleim abgehalten. Immer wieder allerdings, zwischen Hustenattacken und Wutanfällen, schimmert ein glücklicher Kafka hindurch: Einer, der seine große Liebe gefunden hat.
Kafka bereitet sich auf seinen Tod vor, Dora stets an seiner Seite. Seinem engsten Freund Max Brod will er seine unveröffentlichten Texte hinterlassen, mit der Bitte, dass diese niemals an die Öffentlichkeit gelangen. Kafka möchte keines seiner Werke der Nachwelt hinterlassen, einen Großteil davon vernichtet er selbst. Für Dora hat er eine besondere Aufgabe: Sie soll vor seinem Tod noch einen Liebesbeweis antreten.
dpa
Mehr oder weniger glücklich
Tipp: Buch Wien 2011
- 10.11.: Michael Kumpfmüller liest aus seinem Roman in der Hauptbücherei
Franz Kafka ist die wohl wichtigste deutschsprachige Literatur-Ikone des 20. Jahrhunderts. Nicht nur, weil seine Texte schwer zugänglich und faszinierend zugleich sind und sich als Feld für allerlei literaturtheoretische Spielereien bestens eignen. Vor allem auch, weil der Mensch Franz Kafka, basierend auf seinen umfangreichen Briefen und Tagebucheintragungen, als Paradebeispiel des in sich zerrissenen und unglücklichen Literaten gilt und genau dieser Mythos die wahre Persönlichkeit längst überholt hat. Spricht man heute von Kafka, meint man seine gestörte Beziehung zum Vater, sein ewiges Hadern mit dem eigenen literarischen Anspruch. Heute würde kaum jemand Max Brod verurteilen, weil er Kafkas Wunsch, dessen Texte nach seinem Tod zu vernichten, ignorierte und sie trotzdem veröffentlichte. Aber trotzdem: Kafka wollte, dass sein Werk ausgelöscht wird. Und genau dieses Wissen um seine Person macht auch die Lesart seiner Texte aus. Dass so einer glücklich sein könnte, passt nicht in literaturhistorische Spekulationen. Kafka und die Frauen waren zwar immer ein Thema, aber seine wohl bekanntesten Beziehungen Felice Bauer und Julie Wohryzek waren stets immer nur das Gegenüber, dem Kafka sein Leiden schrieb. Eigenständige Persönlichkeiten oder gar die große Liebe: Niemals.
dpa
Weitere Leseempfehlungen:
Der deutsche Autor Michael Kumpfmüller wagt sich in seinem neuen Buch "Die Herrlichkeit des Lebens" daher auf ziemlich heikles Terrain, denn Kumpfmüller erzählt von einem glücklichen Kafka. Einem, der zwar von Tuberkulose zerfressen wird, aber in Dora Diamant die große Liebe gefunden hat. Tatsächlich ist Dora die letzte Liebschaft in Kafkas Leben, da dieser aber zu diesem Zeitpunkt gesundheitlich kaum in der Lage war neue Texte vorzulegen, gilt sie offiziell in seinem Leben als eher unwichtig. Nicht so bei Kumpfmüller: Hier wird von einem zarten Band zwischen den beiden fantasiert, von einer wahrhaftigen Seelenfreundschaft. Behutsam beschreibt Kumpfmüller die Selbstzweifel der zwei Liebenden, die sich aber dann doch gegenseitig bestärken. Ein Liebesroman, ergänzt durch nicht ausgewiesene Zitate und Tagebucheintragungen Kafkas: Kumpfmüller kennt seine Sekundärliteratur. Immer wieder hat man das Gefühl, Kafkas Schreibstil dominiert den ganzen Text, wie ein Echo aus dem Jenseits.
Franz Kafka findet hier die große Liebe. Wie groß tatsächlich, das erfindet Kumpfmüller natürlich: Er spielt sich als allwissender Erzähler auf, der den ewig zerrissenen Literaten zu einem begehrenswerten Liebhaber macht. Auch das mag am Ende reine Erfindung sein – aber wer weiß das schon?