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Christian Lehner Berlin

Pop, Politik und das olle Leben

27. 10. 2011 - 02:06

Occupy Memphis

Ein Besuch beim Occupy-Chapter in der ärmsten Großstadtregion der USA.

Mehr zur Occupy-Bewegung auf fm4.orf.at/occupywallstreet

Krisenportraits: We Are The 99 Percent

Occupy Memphis Website

Occupy Wall Street Website

Langsam schiebt sich das Grüppchen ins Blickfeld. Die Schilder und Slogans sind bekannt: „We are the 99%!“, skandieren die gut zwei Dutzend AktivistInnen vor dem Lorraine Motel in Memphis, das 1991 in das National Civil Rights Museum umgewandelt wurde.

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Am Balkon über den Köpfen der Demonstranten starb am 4. April 1968 Dr. Martin Luther King Jr. durch eine Kugel aus dem Gewehr des vorbestraften Rassisten James Earl Ray. Die Hintergründe der Tat konnten bis heute nicht lückenlos aufgeklärt werden. Ich beobachte die Gruppe, die via people’s mic die Anliegen von Occupy Memphis verkündet, vom Haus gegenüber, aus dem die Todesschüsse auf Dr. King abgefeuert wurden. Die ehemalige Pension öffnete 2002 als Annex zum Civil Rights Museum. Auf etwas morbide Weise ist die gesamte Ausstellung dem Attentat und Attentäter gewidmet. Im hinterglasten Badezimmer steht noch immer der Spalt des Fensters offen, durch den der Lauf der Waffe auf den großen Bürgerrechtsaktivisten gerichtet wurde.

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Gut eine Stunde bevor Occupy Memphis vor dem Lorraine auftauchte, lief im Museumskino ein Film über die letzten Tage von Martin Luther King Jr. Der Bürgerrechtler war nach Memphis gereist, um den Streik der überwiegend schwarzen Müllabfuhrarbeiter zu unterstützen. Die Segregation existierte zwar seit 1964 per Gesetz nicht mehr, dennoch verdienten zum Beispiel weiße Stadtangestellte noch immer besser als schwarze. Auch die Arbeitsbedingungen bei der Müllabfuhr waren ungleich verteilt; mehrere Schwarze starben bei Unfällen. Die Aktion in Memphis war Teil der Poor People’s Campaign, die in einem Marsch nach Washington gipfelte, den King allerdings nicht mehr erleben sollte. Er wandte sich gegen Ende seines Lebens vermehrt sozialen Themen zu, weil er ahnte, dass der Rassimus trotz formaler Aufhebung im Gebälk der Gesellschaft fortbestehen würde. Neben der Ermordung sind aus der Memphis-Zeit noch die „I Am A Man“-Schilder der Streikenden und die „I’ve been to the Mountaintip“-Rede des begnadeten Rhetorikers in Erinnerung.

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„Es ist traurig, aber so viel hat sich seither nicht geändert“, meint Paul Garner von Occupy Memphis. „Der Rassismus existiert weiter in den Köpfen der Menschen. Es ist eine Schande“. Die Stadtregierung hätte zwar nach der Ermordung Kings rasch eine Einigung mit den Arbeitern erzielt, „doch es gibt noch immer city employees in dieser Stadt, die Sozialhilfe empfangen, weil sie so wenig verdienen, und jetzt soll auch noch die Müllabfuhr privatisiert werden. Das hat die Einkommen und Arbeitsbedingungen noch selten verbessert."

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Das Camp von Occupy Memphis befindet sich am Civic Center Plaza in Downtown direkt unter der Nase des Bürgermeisters und der Stadtregierung. Die Infrastruktur ähnelt dem Vorbild New York. Das Camp besteht aus Infoständen, einem Verpflegungsareal, einer Bibliothek, Schlafplätzen und Sanitätsstationen. Der Unterschied: statt dem kakophonischen Gemenge aus Trommlern, Diskurs-Führenden, Touristen und Medienvertretern gestaltet sich die Runde der Occupy Memphis AktivistInnen überschaubar. Immerhin kann man sich so in Ruhe unterhalten.

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Ich treffe eine Kleinunternehmerin, einen Gelegenheitsanstreicher, der eigentlich Künstler ist, eine eben erst gefeuerte Lehrerin, eine Antique-Shop-Besitzerin und viele Obdachlose, die lethargisch auf den Parkbänken abhängen. Garner, der anstreichende Künstler, der sich im Lager um die Aufrechterhaltung der Infrastruktur kümmert, erklärt: „Memphis wirkt auf den Besucher zunächst laid back, aber früher oder später erkennt man, wie schlimm die Situation in dieser Stadt ist. Es fehlt an allem und die sozialen Trennlinien verlaufen noch immer entlang der Hautfarbe“. Die Besserstellung der Obdachlosen ist eines der lokalen Anliegen von Occupy Memphis. „Leider fällt dem Bürgermeister nicht mehr ein, als ein Bettelverbort anzustreben“, sagt Garner.

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Daneben fordern die Sprüche auf den Schildern eine Reform der Wahlkampffinanzierung auf nationaler Ebene und eine global gerechtere Wirtschaft sowie ein Ende der Gier an der Wall Street. So wie überall bündeln individuelle Stimmen den tagtäglich erlebten Frust vieler Amerikaner. Was mit der Finanzkrise seit 2008 über den US-Mittelstand hereingebrochen ist, war jedoch in der von Popmythen umrankten Stadt des Rhythm'n'Blues und Rock'n'Roll bereits vorher Alltag.

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Laut US-Census 2010 ist der Großraum Memphis der ärmste des ganzen Landes. Die Mordrate und die Arbeitslosenzahlen liegen konstant im nationalen Spitzenfeld. „Jeder fünfte „Memphian“ ist ohne Job“, erzählt Marquelle Scott am Infostand. Ihre Geschichte ist exemplarisch für die Situation vieler StudentInnen. Die Sozialwissenschaftlerin wurde knapp nach Studienabschluss von ihrer Firma „outsourced“, wie sie es nennt. Seit zwei Jahren ist Marquelle nun schon arbeitslos, wandert von Gelegenheitsjob zu Arbeitsprogramm und zurück. „50.000 Dollar machen meine Schulden mittlerweile aus. Der Großteil davon sind unbezahlte Studiengebühren. Ich habe keine Ahnung, wie ich das jemals abstottern soll“. Scott kehrte mit ihrer Mutter vor 19 Jahren zurück nach Memphis, eine Homecoming-Story. Die Großmutter war seinerzeit mit der Familie nach Illinois geflüchtet. Sie fürchtete das Wiedererstarken des Ku-Klux-Klans nach Ende des zweiten Weltkriegs, das Lynchen und die Vergewaltigungen, die weit bis in die 60er Jahre anhielten.

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In Bezug auf die momentane Familiensituation sagt sie: „Wir haben alles getan, was von uns verlangt wurde und trotzdem stehen wir vor dem Nichts“. Eine Freundin sei erst letzte Woche zurück zur Mutter nach Chicago gezogen - „auch sie ein college graduate, auch sie arbeitslos“. Scott spricht von allgemeiner Stadtflucht. Zuerst hätte der lokale big player, die Wells Fargo Bank, vielen schwarzen Familien die Kredite regelrecht aufgeschwatzt und alle möglichen Versprechungen gemacht „und jetzt werden ihre Häuser zwangsversteigert. Vielen bleibe nur noch die Wahl zwischen Essen oder einem Dach übern Kopf´und viele entscheiden sich für Ersteres. Und es stimmt, bei einer Stadtrundfahrt durch Memphis stechen dem Besucher die vielen leerstehenden Wohnungen, Häuser, aber auch Firmengebäude ins Auge. Selbst an einem Montagmorgen wirkt das Stadtzentrum wie ausgestorben.

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Die arbeitslose Lehrerin, der Anstreicher und die Antiquitäten-Shop-Besitzerin nicken zustimmend, als Scott ihren langen Vortrag beendet. Mittlerweile ist es Abend geworden. Eine kleine Schlange hat sich vor dem Verpflegungsstand gebildet. Ein Soldat informiert sich, will aber in Uniform nicht interviewt werden. Auch so merkt man, dass er mit der Aktion sympathisiert. Bisher habe es keine troubles mit der Polizei gegeben, sagt Paul Garner. Das Occupy Memphis Lager, das nur wenige Blocks entfernt vom Mississippi errichtet wurde, existiert zwar erst seit eineinhalb Wochen, aber bereits am zweiten Tag konnte man in den Augen der AktivistInnen jenes Feuerchen flackern sehen, das ich auch schon in New York beobachtet habe. „Wir bleiben, egal, wie lange es dauert“, sagt Marquelle Scott, die von sich behauptet, in den vergangenen Jahren zunächst zu gutgläubig, dann zu apathisch gewesen zu sein. „Sie können versuchen, uns zu verhöhnen und zu verjagen, wir bleiben". Das klingt pathetisch, aber auch glaubwürdig. Schließlich hat die junge, gut ausgebildete Langzeitarbeitslose kaum noch etwas zu verlieren - so wie viele in Memphis und darüber hinaus.

Occupy Memphis, Donnerstag in FM4 Connected ab 15 Uhr.