Erstellt am: 30. 10. 2011 - 12:35 Uhr
Tinkers: Paul Hardings preisgekrönter Roman
"Ich wollte schauen, ob ich meinen Vater im Wald fände. Als ich durch den Wald ging, hatte ich seine alten Stiefel an. Sie waren zu groß, und ich musste drei Paar Socken übereinanderziehen, damit sie saßen."
George Washington Crosby sucht seinen Vater, damals, jetzt ist er selbst ein erwachsener Mann, ein alter Mann, am Sterbebett. Kindheit und Jugend ziehen an ihm vorüber als der Countdown läuft, die Stunden dahinschmelzen.
"Dann hörte George auf zu fischen, denn die Fledermäuse stießen an seine Angelfliege, und er sah im Geiste das schreckliche Bild einer Fledermaus, die an dem mit Stacheln versehenen Haken aufgespießt ist und sich, verzweifelt schreiend, befreien will, sich dabei aber nur die zarten Flügel bricht."
("Tinkers", Seite 78/79)
Underdog
Was erst "a little book, from a little publisher" war, steht jetzt in einer Reihe mit solchen US-Größen wie William Faulkner, Ernest Hemingway oder Cormac McCarthy. Sie alle sind auch Pulitzerpreisträger. Dass er selbst einmal einer ein würde, hätte Paul Harding nie zu träumen gewagt. Zwei Jahre nach der Veröffentlichung von Hardings Roman "Tinkers", bei einem Kleinverlag in den USA, ist das Buch jetzt auch in deutscher Übersetzung erschienen. Ein großer amerikanischer Roman bleibt "Tinkers" dann auch auf Deutsch. Ein beinahe makeloser Roman ist "Tinkers". Perfektionismus? Ein möglicher Kritikpunkt. Aber suchen wir doch erst gar nicht nach der Stecknadel im Heuhaufen, folgen wir einfach den halluzinierenden Gedanken des George Washington Crosby.
"Howard lehnte sich an ein Hinterrad des Karrens und sah zu den Himmelskerzen hinauf und wieder in die Kerze, die er angezündet hatte. Ob Kathleen und die Kinder noch vor ihren kalten Tellern am Esszimmertisch saßen?"
Paul Harding
Howard war der Vater von George, und Howard verließdie Familie als George zehn Jahre alt war. Warum? Howard litt unter epileptischen Anfällen, und seine Frau wollte ihn deshalb in eine Irrenanstalt einweisen lassen. Howard nahm seinen Karren und ging, um diesem Schicksal zu entkommen. Howard war ein "Tinker", ein Kesselflicker, ein fahrender Handwerker und Händler, der allerlei Dinge reparierte und verkaufte.
"George saß auf der Couch , hielt mit seiner verletzten Hand ein Buch mit dem Titel "Mark The Match Boy" aufgeschlagen auf dem Schoß, in der anderen einen Apfel. Er dachte über seinen Vater nach, der ihn gebissen hatte und der ein Irrer war und demnächst ins Irrenhaus geschafft wurde. Mit einem Mal wurde ihm klar, dass sein Bruder Joe früher oder später auch ins Irrenhaus kommen würde."
Passender Soundtrack zu "Tinkers":
Portastatic - "Firefly"
Kristin Hersh - "Your Ghost"
Marissa Nadler - "Rosary"
Buffalo Tom - "Tree House"
American Gothic
Harter Stoff voller Krankheit und Leiden, eine Familiensaga, vor der Kulisse der Neuenglandstaaten Maine und Massachusetts, und ihrer überwältigenden, mythischen Natur, wo es blauen Schnee gibt, Wölfe auf zwei Beinen gehen und wie Männer aus dem Fluß trinken. Im Buch von Paul Harding jedenfalls.
"Was, wenn ein Sturm losbricht? Was, wenn es klar ist und der Himmel so randvoll von Sternen, dass das Licht auf die Erde überläuft und sich am Ufer in leuchtende weiße Blumen verwandelt?"
Paul Harding, geboren 1969, ist eigenen Angaben zufolge als Kind und Jugendlicher viel in den Wäldern von Massachusetts herumgestreift, inmitten von gurgelnden Bächlein, scheuem Wildgetier und frechen Eichhörnchen. Da wuchs schon mal aus einem Baum ein Mensch, und das Kind sah amerikanische Ureinwohner, die hier Indianer genannt werden dürfen.
Das ist dein Pferd und es heißt Lady Godiva
Harding
"Tinkers" von Paul Harding ist in deutscher Übersetzung von Silvia Morawetz im Luchterhand Verlag erschienen.
Überhaupt ließ Paul Harding viel von sich und seinen Vorfahren einfließen in diese Americana-Novel, die auch schon mal die Natur verlässt und ins Urbane geht.
"Zweiundsiebzig Sunden bevor George starb, tauchte Nikki Bocheki, eine alte Bekannte aus der unitarischen Kirche, mit einem Alfa-Romeo-Coupe und wehenden Schals auf. Sie setzte ihre große Sonnenbrille ab und küsste Georges Frau auf beide Wangen."
Paul Harding machte erst bei seinem Großvater eine Uhrmacherlehre bevor er auf das College ging. Während sein Romanheld George - ein Uhrmacher - im Sterben liegt, ist er umgeben von tickenden Uhren. Die Zeit läuft ab: Acht Tage bevor er starb. Einhundertachtundsechzig Stunden bevor er stab. Einhundertzweiunddreißig Stunden bevor er starb...
Wer ist dieser Paul Harding sonst noch? Ach ja, Indierock-SpezialistInnen wissen vielleicht, dass er der Schlagzeuger der Bostoner Band Cold Water Flat war. Das Trio - dessen Sänger übrigens der Bruder vom Sänger von Buffalo Tom war - veröffentlichte zwei Alben. Amerikanischer Collegerock, wie man ihn in Boston zu Beginn und Mitte der 90er gern spielte. Hier sitzt Paul Harding an den Drums von Cold Water Flat.
"Tinkers" von Paul Harding ist eine Hommage an Neuengland. Was für William Faulkner der Mississippi war, ist für Paul Harding New England. "Tinkers" ist eine Hommage an die Menschen, die vor einem da waren, und wie sie mit dem Leben zurechtkamen. Letzteres war dann auch der Grund für den Pulitzerpreis.
"Tinkers' is a powerful celebration of life in which a New England father and son transcend their imprisoning lives through suffering and joy and offer new ways of perceiving the world and mortality."