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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

23. 10. 2011 - 20:09

Journal 2011. Eintrag 191.

Drei-Klassen-Verkehr. Auch die Bahn fickt die Mittelschicht.

2011 ist Journal-Jahr - wie schon 2003, 2005, 2007 und 2009. Das heißt: Ein täglicher Eintrag, der als Anregungs- und Denkfutter dienen soll, Fußball-Journal '11 inklusive.

Hier finden sich täglich Geschichten und/oder Analysen, die ich als passionierter Medien-Konsument selber gern gelesen/-sehen/-hört hätte, aber nirgendwo (oder nur unzureichend) finden konnte; und deshalb selber ausforschen und durchdenken muss.

Heute: Begegnung mit deutschen Verkehrs-Hindernissen.

Manchmal ist es heilsam die österreichische Grenze zu überschreiten; weil der andere Blickwinkel nottut - und weil sich dabei Heimisches, das man oft überkritisch sieht, als statthafter erweist, als man im Alltag annimmt.
Nein, ich meine nicht den FM4-Auftritt in München, der wie jedes Jahr gezeigt hat, dass der Prophet beim Nachbarn deutlich mehr gilt - ich habe gestern und heute die ÖBB zu schätzen gelernt.

Als Bahn- und Nicht-Autofahrer ist meine Beziehung zu den österreichischen Bundesbahnen ohnehin relativ friktionsfrei. In die allgemein gesungenen Klagelieder (zu abgefuckt, technisch minderwertig, aufgrund eines katastrophal unausgebauten Streckennetzes zu langsam, unfreundlich, immer verspätet) stimme ich deshalb selten ein, weil auch die Bemühungen, gegen diese Probleme zu arbeiten, schon zählen. Und das mit der Verspätung - passiert dann halt immer mir nie.

Das Drei-Klassen-Modell der Deutschen Bahn

Ein halbwegs aufmerksamer Deutschland-Ausflug mit ein paar Bahnfahrten relativiert aber sowieso alles.
Das beginnt direkt nach der Grenze.

Da erklärt der bayrische Schaffner den Menschen, deren Tickets er vor meinem entwerten will, dass sie mit genau diesem in jenem Zug nichts ausrichten. Die Reisenden sind nicht-deutschsprachig, die Unterhaltung findet auf Englisch statt: es geht um dieses "regional ticket", dass diese Menschen haben, welches nur in "regional trains" Gültigkeit hätte, nicht aber im Intercity-Railjet, in dem wir uns befinden, auch wenn sie sich eh nur in der "regional" Region bewegen würden.
Die englischsprechenden Menschen verstehen zwar die Worte des Schaffners, nicht aber deren Sinn. Und ich, der ich diese Unterhaltung mitverfolge, habe auch Mühe. Weil es diese seltsame Unterteilung in Zug-Kategorien in Österreich nicht gibt. Und ein Ticket das bis Salzburg galt, mit dem Grenzbalken aber plötzlich den Rausschmiss bedeutet. Ich erinnere mich dunkel an Zuschläge für besonders schnelle Züge; aber waren die nicht auch immer schon deutsche?

Klasse 1: se ritschionell ticket

Noch deutlicher wird die Zwei-Klassen-Gesellschaft im deutschen Personentransport-Wesen via Bahn dann beim Versuch von München nach Nürnberg zu gelangen.
Mit IC kein Problem.
Kostet allerdings in etwa so viel wie mein ganzes (vorteilskartenmäßig vergünstigtes) Ticket von Wien nach München. Völlig überzogen, nicht nachvollziehbar.

Angeboten wird auch eine Alternative: das mir schon bekannte Regional-Ticket. Damit fährt man um praktisch kein Geld, wohin man will; allerdings eben nicht im Intercity-Bereich. Der Trip nach Nürnberg dauert doppelt so lang, weil dieser Blumenpflückerzug eben bei jedem Stadl stehenbleibt.

Ich will nicht behaupten, dass diese Trennung zwischen Regional-Verkehr und Intercity-Verbindungen komplett sinnlos ist. Es ist schon recht schlau, da zu flexibilisieren und die Angebote zu staffeln.
Problematisch ist einzig und allein die dahinterstehende Ideologie der Deutschen Bahn, die in jedem Detail deutlich sichtbar wird.

Klasse 2: der überteuerte Intercity-Stehplatz

Der Intercity, den wir dann nehmen müssen, weil die Zeit drängt, ist dann nämlich noch einmal überdeutlich in zwei Klassen unterteilt: zuerst gibt es gefühlte 7 Wagen mit 1. und Super 1. Klasse, dann einen Speisewagen und dann gefühlte 3 überfüllte 2. Klasse-Wagen.
In denen keinesfalls alle Ticket-Inhaber Platz finden können; ich schätze, dass man dort in den entsprechenden Stoßzeiten locker um 20% überbucht. Der Rest hat Pech und steht. Und das ist kein Unfall, sondern eine ganz bewusste Kalkulation.

Es ist wie im echten Leben: die Mittelschicht, also die 2. Klasse im Intercity, steht im Abwehrkampf.
Die, die sich die überteuerten Tickets für die direkte Städteverbindung leisten wollen, damit sie nicht in der Unterschicht der Ein/Auspendler, Studenten und regionalen Cluster kippen. Die Oberschicht, die 1%, müssen sich die überteuerte Version der eh schon überteuerten Tickets leisten, um sich abzugrenzen.

Die Deutsche Bahn betriebt hier, wie in fast allen anderen Bereichen, ganz bewusste ideologische Arbeit. In einem Land, in dem die Zwei-Klassen-Medizin mittlerweile unbeeinspruchte Praxis ist, in einem Staatsgefüge, dass sich seit der Agenda 2010-Gesetzgebung (featuring Hartz IV) deutlich dazu entschlossen hat, zwischen Bürgern 1. und 2. Klasse zu unterscheiden, mag das nicht weiter verwundern.

Klasse 3: die blickdicht zugesprayte 1. Klasse

Eher wundert mich, dass sich derlei Distinktions-Gewürge noch nicht bis ins talentierte Copycat-Territorium Österreich durchgesetzt hat. Im Fall der Zwei-Klassen-Medizin ist man da ja bereits auf einem guten Weg.
Das 3-Klassen-Modell der Deutschen Bahn könnte folgen.

Allerdings wird man dann wohl auch die enstprechenden Widerstands-Maßnahmen mitnehmen müssen. Der nachmittägliche Intercity München-Dortmund jedenfalls trug die Zeichen der Rebellion: die 1.Klasse-Wagen waren vollständig mit deckenden Farben zugesprüht, alles ganz frisch, Fenster inklusive - die Waggons sahen von außen aus wie monochrome Raketen; und im Inneren war's duster.
Wie gesagt, nur die 1. Klasse.

Die DB-Verantwortlichen wissen, wogegen sich das richtet; zugeben werden sie es natürlich niemals. Es würde ja die Ideologisierung ihrer Konzern-Politik bestätigen.