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Christiane Rösinger Berlin

Ist Musikerin (Lassie Singers, Britta) und Autorin. Sie schreibt aus dem Leben der Lo-Fi Boheme.

22. 10. 2011 - 09:02

Die Kreativen und die ganz Naiven

"Besser als noch eine Shopping Mall ist doch eine Shopping Mall für Kreative!"

Gestern war in einer Berliner Zeitung zu lesen: "Rot-Schwarz will den Kreativen besser helfen". Es ging dabei um die Unterstützung der Berliner Musikszene. Am gleichen Tag hatten die Schnellmerker von der FAZ einen Neukölln-Artikel im Feuilleton, es ging mit drei Jahren Verspätung um die "jungen Kreativen", die aus dem Problembezirk eine hippe Gegend machen.

Die Kreativen – ein schreckliches Wort, eigentlich ein Schimpfwort, das in letzter Zeit immer öfter gebraucht wird. Waren bislang Kreative doch eher Menschen, die als Grafiker, Werber oder Produktdesigner in Büros ihr karges Leben fristen müssen, werden jetzt auch ehrliche Berufe wie der des Barbetreibers und Musikers, werden Journalisten, Autoren und Clubmacher zu den Kreativen gezählt.

moritzplatz in berlin

rösinger

Der Moritzplatz 2011. Einer der schönsten Plätze in Berlin.

Anfang des Monats wurde sogar in einer vergessenen Ecke Kreuzbergs mit großem Trara samt Bürermeisteransprache ein ganzes "Creativzentrum" am Moritzplatz eröffnet. Das ist ein brachliegender Platz zwischen Imbissbuden, Discountern und einer Verkehrsinsel in einem der strukurschwächsten Gebiete Berlins. Vor hundert Jahren noch war der Moritzplatz der Inbegriff von Urbanität: Große Warenhäuser wie Wertheim hatten hier ebenso ihren Stammsitz wie die Bierquelle Aschinger mit Konzerthalle und Theater, außerdem gab es Tanz- und Vergnügungsetablissements mit über tausend Sitzplätzen. Im Krieg wurde der Platz zerstört, der nahe Mauerbau und die westberliner Radikalsanierung gaben ihm den Rest, nach dem Mauerfall lag er plötzlich wieder im Zentrum Berlins.

Die Besichtigung des neuen Kreativkomplexes am historischen Ort fiel dann einigermaßen ernüchternd aus. Man sah einen modernen Betonbau auf zwei Stockwerken, darin Läden mit Designermöbeln und einen Türklinken-Showroom. Im Erdgeschoß eine Buchhandlung und einen Gourmet-Küche-Zubehör-Laden. Das Restaurant "Coledampf" gab ein erschreckendes Beispiel der grassierenden Wortspielseuche. Ratlos strich man durch das Gebäude, ein Anbau der alten Klavierfabrik Bechstein, einst Produktionsstätte der berühmten Bechsteinflügel, und versuchte zu ergründen, was jetzt das arg Besondere des Hauses sein sollte.

moritzplatz

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Der Moritzplatz um 1900: Einer der geschäftigsten Plätze Berlins.

Eine der kreativen Klasse nicht ganz so abgeneigte Freundin erklärte mir: "Es ist ein Haus geworden für die 'Creative Industry', für all die, die mit Kreativität Geld verdienen, für Modedesigner, Bühnenbauer, Produktdesigner, Architekten und für die neue Do-It-Yourself-Bewegung. Und unten, wo die Familie Bechstein früher den Swimmingpool hatte, gibt es einen neuen Club, 'Prince Charles'." "Ein seelenloser Raum mit teurer Technik", warf der DJ –Freund der kreativen Freundin ein. "Aber es gibt auch eine Galerie für Sinti- und Roma-Kunst! Und ein Theater und Lesungen"!, erwiderte sie.

Schwammgummmikugel, weiß für Modellbäume

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Schwammgummmikugeln, weiß, für Modellbäume

Ein befreundeter Architekturstudent kam des Weges und erklärte, den Modulorladen für Architekten und Modellbauzubehör habe es schon länger in Kreuzberg 61, dem bürgerlicheren Teil Kreuzbergs, gegeben, er sei aus allen Nähten geplatzt, deshalb habe man ein größeres Haus gebaut und neue Mieter mit hineingenommen. Das mit dem "Kreativhaus" sei halt ein Marketing- und Imagetrick, auch, um das Gebäude billig vom Land Berlin erwerben zu können. "Und besser als noch eine Shopping Mall ist doch eine Shopping Mall für Kreative!" Darauf konnten sich alle einigen.

Draußen bastelten grade ein paar Do-it-yourself-Aktivisten daran, mit Hilfe einer Folie aus der U-Bahn Station "Moritzplatz" einen "Makerplatz" zu machen. "Idioten", dachte ich innerlich, und der alte Stoßseufzer "Zum Glück bin ich nicht kreativ!!" entfuhr mir, als ich mich entfernte.