Erstellt am: 20. 10. 2011 - 14:11 Uhr
"Eine freie Gesellschaft braucht kritische Geister"
Wenn ein Nobelpreisträger nach Wien kommt, dann ist er meistens im Stress. Der Terminplan ist prall gefüllt mit Auftritten, Empfängen und Interviews. So auch bei Mario Vargas Llosa, dem peruanischen Literaturnobelpreisträger des Jahres 2010. Vargas Llosa ist für die Gratis-Buch-Aktion "Eine Stadt, ein Buch" nach Wien gekommen, bei der 100.000 Exemplare seines Romans "Der Geschichtenerzähler" in der Stadt verteilt werden. Seine Zeit ist also kurz bemessen. Nach der Lesung gestern im GRG 23, einem Gymnasium im 23. Bezirk, gingen sich nur mehr ein paar Fragen zwischen Tür und Angel aus.
APA/Helmut Fohringer
Herr Vargas Llosa, Sie haben gerade vor einer Schulklasse gelesen, welche Bedeutung schreiben Sie Literatur für die Bildung zu?
Ich glaube sie ist essentiell. Die Bildung muss, unter anderem, gute Leser formen, die Neugier bei den Jugendlichen wecken - ebenso wie die Literatur auch. Die Literatur ist dabei nicht nur gute Unterhaltung, sondern auch eine Art, die eigene Sprache kennen und dominieren zu lernen. Und eine Sprache gut zu können erlaubt dir besser zu denken, mit mehr Klarheit. Es bereichert das Einfühlungsvermögen und die Vorstellungskraft der Personen und hilft bei der Entwicklung eines kritischen Geistes.
Deshalb glaube ich, dass gute Leser hervorzubringen eine Art und Weise ist, gute Bürger für die Zukunft hervorzubringen. Eine demokratische und freie Gesellschaft braucht Bürger mit Einfühlungsvermögen und Vorstellungskraft - kritische Geister.
Im Moment gibt es viele gut ausgebildete junge Leute, die aber keine Arbeit finden, in Spanien, Europa und den USA…
Klar, und das ruft gerechtfertigte Proteste hervor. Die Wahrheit ist, dass eine Gesellschaft die Pflicht hat, den Jungen Chancen zu ermöglichen. Es ist furchtbar für junge Menschen, die oft große Opfer gebracht haben um eine Ausbildung abzuschließen und die dann nicht arbeiten können.
Es gibt einen Defekt, der in diesen Gesellschaften korrigiert werden muss. Leider gibt es diese Krise, ein Produkt von Exzessen und unverantwortlichem Handeln eines großen Teils der Unternehmer. Ich glaube das erfordert eine radikale Reform und vielleicht wird die Bewegung der Jungen diese Reform erleichtern, je früher desto besser.
In Spanien fordern die Jungen „Echte Demokratie jetzt!“, sehen Sie darin eine Chance oder eine Gefahr für die dortige Demokratie?
Das kommt drauf an. In ihren Ursprüngen sind diese Proteste legitim. Was mir jedoch absurd vorkommt ist die Forderung nach der Abschaffung des Systems. Das System ist nicht schlecht, es hat Spanien unter anderem großen Aufschwung gebracht.
Es war schlimm, als Spanien eine Diktatur war. Ich habe als Student in Spanien gelebt, als die Diktatur geherrscht hat. Es gab eine schreckliche Zensur, es gab keine freie Presse, in keinem Bereich gab es Kritik, weder im sozialen Bereich, noch in der Politik oder der Kultur.
In diesem Sinn - Spanien hat sich dank der Demokratie enorm weiterentwickelt. Im Moment ist die Demokratie nicht perfekt, ja, und es ist sehr wichtig, dass diese Korrekturen vorgenommen werden, die die Jungen fordern. Was keinen Sinn macht, ist das System zerstören zu wollen, das im Großen und Ganzen ein System des Fortschritts und der Zivilisation ist.
Was kann die Literatur in solch einer Situation machen?
Ich glaube, dass die Literatur traditionell sehr kritisch gegenüber dem Zustand der Welt ist, und gegenüber der Gesellschaft. Deswegen wird die Literatur auch in allen autoritären Regimen zensuriert, ohne Ausnahme. Ich glaube, dass die Literatur jetzt eine ganz wichtige Rolle spielen muss, dass gerade die guten Bücher den kritischen Blick der Leser gegenüber der Gesellschaft, in der sie leben, bereichern.