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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

18. 10. 2011 - 22:53

Journal 2011. Eintrag 188.

Chorherrs Kapitel. Die überfällige Korrektur einer durch nichts legimitierten Realverfassung.

2011 ist Journal-Jahr - wie schon 2003, 2005, 2007 und 2009. Das heißt: Ein täglicher Eintrag, der als Anregungs- und Denkfutter dienen soll, Fußball-Journal '11 inklusive.

Hier finden sich täglich Geschichten und/oder Analysen, die ich als passionierter Medien-Konsument selber gern gelesen/-sehen/-hört hätte, aber nirgendwo (oder nur unzureichend) finden konnte; und deshalb selber ausforschen und durchdenken muss.

Heute mit einer weiteren Äußerung zur Zukunft der Demokratie, diesmal von Christoph Chorherr in dessen neuem Buch Verändert!.

Er gehe davon aus, dass mich zwar nur ein Kapitel seines Buchs interessieren würde, sagt Christoph Chorherr, der Sohn meines wichtigsten Uni-Dozenten und Wiener Gemeinderat, aber er würde mir trotzdem das ganze Buch schicken.
Er hat recht.
Die anderen der vielen Themen, die der streibare Grüne da an- und ausführt (Fahrrad, Bildung, speziell in der Schule, Ökologie etc) sind ebenso spannend - aber nur Kapitel 3 behandelt dann eben eines meiner großen Themen: die Zukunft der Demokratie.

Chorherr, der den Weg von 'attack' zu 'engage' gefunden hat, schlägt da Modelle vor, die er - als Praktiker - auch gleich durchspielt. Und natürlich ist es auch als Politiker nötig sowas zuerst durchzudenken, dann zu entwickeln und zu präsentieren, ehe es an die Umsetzung geht.
Das aktuelle, von akuter Schlagzeilen-Primitivität geprägte Bild der Politik verlangt ja ausschließlich nach Unmsetzung, unter ziemlicher Ausblendung der nötigen Vorarbeit.
Und genau dieses miserable Bild ist/war Anlass für das Chorherr-Modell.

Die Wiedergeburt des Parlamentarismus

Wenn einer sagt, er fliegt mit verbundenen Augen mit dem Paragleiter den Berg hinunter, sagt Chorherr, dann steht er öffentlich besser da als wenn er sagen würde, dass er sich politisch engagiere, an irgendeiner Basis. Das ist absurd, aber Realität.

Mit den Problemen des Status Quo hält er sich nicht lange auf, wir kennen sie ohnehin. Möglichkeit 1, alles über die Veränderung des Wahlrechts zu lösen, geht ihm zu wenig weit. Chorherr will eine neue Verfassung.

Ich verknappe jetzt: der Regierungschef soll direkt viom Volk gewählt werden, das Parlament, aktuell nur eine Durchwinkstation von Regierungsbeschlüssen, ebenso. Am Wahlzettel sollen nicht die Parteien, sondern die Kandidaten stehen, die - über ihren Wahlkreis - eine direkten Verantwortung einer klar umrissenen Wählerschaft gegenüber haben. Das wäre ein dickes Vorzugsstimmen-System mit extrem aufgewerteten Abgeordneten. Die, wie im EU-Parlament, mit einem kleinen Stab an Mitarbeitern/Experten ausgestattet sind.

Diese Abgeordneten müssen die vom Regierungschef vorgeschlagenen Minister (über Hearings) bestätigen. Klingt nach USA-Mustern. Chorherr verspricht sich über die neue Unabhängigkeit der Abgeordneten und auch des direkt gewählten Regierungschefs auch hier eine Kür des Besten anstatt eines Kabinetts der feudalen Kompromisse.

Die überfällige Korrektur einer illegitimen Realverfassung

Allfällige Fehlentwicklungen wären - über dieses System - bei der nächsten Wahl leicht korrigierbar.

Also: nicht mehr die Parteien wählen das Exektiv-Personal aus, sondern (im ersten Schritt) das Volk und (im zweiten Schritte) die dafür gewählten Volksvertreter. Das setzt eigentlich nur den Willen der bestehenden Verfassung um - ausgehebelt wird nur die durch die Parteien versaubeutelte sogenannte Real-Verfassung.

Dazu kommen eine Menge Elemente direkter Demokratie, Volksabstimmungen etc.

Es gibt nicht allzuviele verhindernde Einwände gegen so ein Modell. Eines wäre die Frage ob nicht die Wahl von einzelnen Abgeordneten den Wähler überfordern würde. Chorherrs Antwort darauf ist so bösartig wie wahr: Menschen, die sich wochenlang Gedanken drüber machen welchen Flachbildschirm oder welches Smartphone sie anschaffen wollen, ist das zuzumuten.

An diesem Punkt habe ich an das schöne Windhaager Modell denken müssen, das eine Gruppe bunt zusammengewürfelter junger, politisch interessierter, aber keineswegs gebundener Menschen diesen Mai an einem einzelnen Nachmittag entwickelt hat.
Denn diese Einwurf-Frage hatten wir uns dort auch gestellt. Um es final den Menschen durchaus auch zuzumuten.

Reminiszenzen an das Modell von Windhaag

Das Windhaager Modell geht vielleicht noch einen Schritt weiter - es sieht nicht die Direktwahl des Regierungschefs, sondern die Direktwahl der Minister vor. Chorherr will die durch Hearings schicken, die Windhaager gleich durch eine Wahl. Andererseits ist das Windhaager Modell aber auch realistischer: es blendet die Parteien nicht, wie in Chorherrs Modell, völlig weg: es lässt sich als Ansammlung von Kompetenz-Zentren weiter in der Mitte der politischen Verantwortung.
Chorherrs echtes Parlament mit richtigen Abgeordneten würde letztlich zu einer Auflösung der Parteien im heutigen Sinn führen, da dort die themenbezogene Interessensgemeinschaft von Abgeordneten das schlüssigste Organisations-Prinzip wäre.

Ich halte das für völlig richtig gedacht.
Aber für deutlich schwerer durchführbar.
Und die Durchführbarkeit ist für den Realo nicht einfach nur irgendein, sondern ein zentrales Kriterium.

Andererseits: Das jetztige System, sagt Chorherr, sei bereits derart in Misskredit, dass sogar eine radikale Veränderung gute Chancen hat.
Wenn dieses Denken Teil der Realverfassung der politischen Think Tanks wird, dann wird auch diese oder eine andere Verfassungs-Reform auf den Weg geschickt werden. Vielleicht sollten wir da aber nicht mehr allzu lange trödeln.