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Todor Ovtcharov

Der Low-Life Experte

19. 10. 2011 - 11:26

Viva la Revolution!

Ich liebe das Protestieren. Es ist mir egal wogegen – Kommunismus, Studiengebühren oder das Finanzsystem.

Fotos: Nikola Malinov

Zum ersten Mal in meinem Leben protestierte ich mit drei. Meine Eltern nahmen mich, zum Schreck ihrer Eltern, auf alle antikommunistischen Kundgebungen in Sofia mit. "Dass, die euch jetzt verhaften, ist mir ganz egal", meinte meine Oma, die immer noch fest daran glaubte, dass die kommunistische Ordnung in Bulgarien ewig halten würde, "Aber denkt an das Kind, soll es auch im Gefängnis verrecken?" Meine Eltern ließen sich aber nicht abschrecken. Sie spürten, dass sie an der Schwelle der Freiheit stehen und wollten, dass ihr Kind auch früh lernt, dass freie Menschen für ihre Freiheit kämpfen sollen.

"Nie wieder Kommunismus!" und "Die Zeit gehört uns!", schrien die Menschen der bulgarischen "sanften" Revolution von 1989 auf dem Platz vor dem Parteihaus in Sofia. Die Bulgaren sehnten sich, wie alle anderen Osteuropäer, nach Freiheit. Eine Freiheit, die ihnen von einer fremden Großmacht vor 45 Jahren geraubt worden war. Statt Freiheit wurde den Bulgaren Gleichheit angeboten. Die Gleichheit verwandelte sich schnell in Gleichgültigkeit. Der Konformismus prägte jahrelang das Leben meiner Vorfahren. Dazu kam es, dass einige Wenige geschafft haben, gleicher als die Gleichen zu werden.

Und genau sie brachten die Bulgaren 1997 wieder auf die Straßen. Nach dem Zerfall des kommunistischen Systems verschwand das Kapital des Staats der " Arbeiter und Bauern" in den Koffern der "Gleicheren" aus dem Land. Ich war in der Mittelschule. Zusammen mit meinen Mitschülern und der Klassenlehrerin bauten wir eine Barrikade auf der Straßenkreuzung vor der Schule.

Nikola Malinov

Im Land herrschte eine Hyperinflation, die Banken gingen eine nach der anderen Pleite und das Brot verschwand aus den Regalen der Geschäfte. Die Menschen protestierten wieder. Sie stürmten das Parlament, allerdings wurde die "Freiheit" von "Brot" in den Forderungen ersetzt. Die Kommunisten und ihre Nachfolger wurden wieder der miesen Lage verantwortlich gemacht: "Wer nicht springt, ist einer von den Roten", sangen die springenden Studenten bei ihren Protesten vor dem Parlament.

Seitdem ich in Wien bin, verfolgt mich der Wut der Massen immer wieder. In einem meiner ersten Jobs musste ich im Keller einer Bank im ersten Bezirk der Kontostand der Kunden kuvertieren. Es interessierte mich gerade wenig, dass Herr Meier aus Bregenz 5 Millionen Euro auf seinem Konto hat und Frau Schmidt aus Hartberg sich mit nur 300.000 beglücken muss. Ich war froh, dass ich nach einer Woche kuvertieren 200 Euro auf mein eigenes Konto haben konnte, was mir ein einmonatiges Festmahl mit Ketchup-Spaghetti sicherstellte.

Nikola Malinov

Nachdem ich die Kuverts gestapelt hatte, sollte ich die Information über die Millionen auf österreichische Kontos in orange Kisten auf einem Schiebewagen zur Post transportieren. Dann passierte etwas Schreckliches. Ich schob meinem Wagen langsam und sicher der engen Gassen im ersten Bezirk entlang, als ich ein unglaublich lautes Geschrei hinter mir hörte. Eine Studentendemo verfolgte mich. Ich versuchte Tempo zu machen, da ich Angst hatte, dass alle Kuverts auf die Straße fallen und ich sie nie wieder ordnen kann. Die Demo war aber schneller und ich nahm mein Schicksal entgegen. Mit einem Hand schob ich die Karre mit den Briefen nach vorne. Die andere ballte ich zur Faust und streckte sie in die Luft. "Die Gebühren müssen weg!", schrie ich, während ich ganz gut aufpasste, dass die Millionen auf den österreichischen Konten nicht auf die Straße fallen. Alles lief gut. Ich schaffte es bis zur Post, ohne die Briefe umzukippen und die Studiengebühren in Österreich wurden abgeschafft.

Nikola Malinov

Letzten Samstag war ich wieder protestieren. Wie ich euch schon am Anfang erzählt habe, liebe ich es einfach. Es ist mir egal wogegen – Kommunismus, Studiengebühren oder das Finanzsystem. Hauptsache: ich will nicht von diesen 99% sein, denen es immer schlecht geht. Aber vielleicht wenn ich zu den Wenigen übergehe, die es nicht notwendig haben, zu protestieren, geht das Wunderbare am Leben einfach verloren? Wer weiß.