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Christian Fuchs

Twilight Zone: Film- und Musiknotizen aus den eher schummrigen Gebieten des
Pop.

22. 10. 2011 - 16:15

Engelserscheinungen

Was der beste Film und der beste Song derzeit gemeinsam haben: Lobgesänge auf "Drive" und Lana Del Rey.

Schon klar: Dieser Film startet erst Anfang nächsten Jahres regulär in den Kinos. Und die beiden Viennale-Vorstellungen sind restlos ausverkauft. Dass er hier jetzt trotzdem Thema ist, hat zweierlei Gründe. Zum einen hat sich die Begeisterung über "Drive" wie ein digitales Lauffeuer im Netz verbreitet, die Internet Moviedatabase etwa listet ihn derzeit als meistangeklickten Streifen, noch vor sämtlichen massenwirksamen Blockbustern.

Drive

constantin film

Zum anderen bin ich aber selber so dermaßen im "Drive"-Fieber, dass ich meine Obsession hier einfach mit euch teilen muss.

Dem dänischen Regisseur Nicolas Winding Refn verdanken wir bereits einige packende Filme, von der desolaten "Pusher"-Trilogie über den noch brachialeren Gefängnisschocker "Bronson" hin zum apokalyptischen Wikinger-Delirium "Valhalla Rising". Ziemlich dezitierte Männerfilme allesamt, wenn man sich auf Genderklischees einlassen will, mit einem stetig zunehmenden Hang zur Abstraktion inmitten entfesselter Genrekino-Brutalität.

Winding Refns Arbeiten konnte man bisher bestaunen, sich davon fesseln und verstören lassen, aber sie wohl nicht wirklich sentimental anhimmeln. Und jetzt kommt er plötzlich mit "Drive" daher, in dem an entscheidenden Stellen ebenfalls die Blutsuppe in die Kamera spritzt, der aber dennoch so anders ist als die Vorgänger. "Drive" ist nämlich ein Film zum Verlieben, zum innigen Umarmen, zum mit in die Träume nehmen. "Drive" hat inmitten des Schreckens ein warm pulsierendes Zentrum, ein pochendes Herz aus zuckerlrosa Neon.

Drive

constantin film

Stille und Ruhelosigkeit

Ryan Gosling, der in der Kategorie "Indiekompatibles Sexsymbol" sämtliche Konkurrenten abgehängt hat, ist der Driver. Bei Tag crasht er als Stuntfahrer diverse Schlitten vor laufender Kamera zu Schrott, nachts spielt er bei Einbrüchen und Überfällen den Fluchtfahrer. Keine Gewalt wünscht er sich dabei, der Mann mit der goldenen Satinjacke mit dem aufgenähten Skorpionsymbol.

Eines Tages wird der eisern disziplinierte Alltag des Drivers, zwischen Professionalismus und Kriminalität, durch eine Begegnung aufgebrochen. Ein Lächeln auf einem Hotelkorridor bringt seine Kontrolliertheit ins Schwanken. Eine junge Frau (Carey Mulligan) grinst ihn an, mit ihrem kleinen Sohn im Arm. Er wird das charmante Grübchen auf ihrer Wange wiedersehen, ihr Blick ihn nicht mehr loslassen.

Schon an dieser Stelle, wo die Geschichte dieses Films erst losrollt, möchte ich jegliche Nacherzählung abbrechen. Nicht bloß, um euch die Freude an diesem Meisterwerk nicht zu verderben. Sondern weil sich "Drive" gar nicht so dringlich um die Idee einer ausgefeilten Handlung kümmert. Nicolas Winding Refn ist weit von den gefinkelten Storygerüsten und Dialog-Marathons eines Quentin Tarantino entfernt.

Was er mit dem berühmten Regiekollegen teilt, ist allerdings die Strenge der Inszenierung. Jede Einstellung in "Drive" ist durchkomponiert, sekundengenau auf den Punkt getimed, absolute Stille wechselt sich mit rauschhafter Ruhelosigkeit ab, Minimalimus mit maximaler Effektivität. Von der elektrisierenden Creditsequenz bis zum Abspann sitzt alles hier.

Drive

constantin film

Ein Fahrer ohne Namen

Ein derartig manisches Gespür für Ästhetik kann sich natürlich auch schnell in eine Sackgasse verwandeln. Die Gefahr eines eisigen Perfektionismus, der jedes Leben zwischen den durchkomponierten Bildern erstickt, spürt man in "Drive" aber nie. Ganz im Gegenteil erfüllt eine unerhörte Vitalität diesen Film, selbst in seinen reduziertesten Augenblicken, die komprimierte Emotionalität hallt noch Tage nach dem Kinobesuch nach.

Das ist doppelt bemerkenswert, weil Nicolas Winding Refn auch punkto Charakterzeichnung auf bewusste Stilisierungen setzt. Der wortkarge Driver braucht keinen Namen, weil er eine mythische Figur ist, aufgeladen mit Pop-Ikonografie. Einer von Gottes einsamen Männern, wie Paul Schrader solche einzelgängerischen Figuren nannte, ein Loner in der Nachfolge von Robert de Niro ("Taxi Driver"), Alain Delon ("Le Samouraï") oder Clint Eastwood, inklusive dessen Markenzeichen-Zahnstocher im Mund.

Auch das zwielichtige Personal, das die Schattenwelt von Los Angeles bevölkert, verkörpert von fantastischen Typen wie Albert Brooks, Ron Perlman oder Bryan "Breaking Bad" Cranston, scheint weniger aus der Wirklichkeit als aus dem Kino oder bestimmten TV-Serien zu stammen.

Aufdringlich konkret werden die Assoziationen an Martin Scorsese, William Friedkin oder Michael Manns TV-Serie "Miami Vice" aber niemals, sie flackern nur wie Schemen im filmischen Unterbewusstsein auf, genauso wie Verweise auf die Autofetischismen in den Undergroundstreifen des legendären Kenneth Anger.

Drive

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You keep me under your spell

Winding Refn, der eng mit Ryan Gosling zusammenarbeitete, erschafft aus all dem Vorrat an Archetypen, aus Verweisen an die Sechziger und Achtziger, ein gänzlich originäres Gegenwartswerk. Eine Beschwörung großer Gefühle, eine Ballade über Einsamkeit und glänzendes Chrome, Liebe und Stahl, Tod und Erlösung.

Ganz zentral dabei: Der vielleicht beste Soundtrack der jüngeren Filmgeschichte. Cliff Martinez entwirft auf den Spuren von Elektronik-Pionieren wie Vangelis und Tangerine Dream eine hypnotische Musik, die man auf nächtlichen Autofahrten ohne Pause hören möchte. Bis zum Sonnenaufgang, ob mit oder ohne Showdown.

Es ist ein Sehnsuchts-Score, der die Entfremdung des Drivers auf den Punkt bringt, aber auch uns Betrachtern im dunklen Saal Raum für melancholische Projektionen lässt. Unterbrochen werden die wabernden Synthklänge von noch sehnsüchtigeren Songs, grandioser Electropop-Unschuld von Bands wie College oder Desire. "I don't eat, I don't sleep, I do nothing but think of you, you keep me under your spell."

Von solchen Lyrics to end all lyrics, von der Hardcore-Romantik in "Drive" und dem eleganten Umgang mit Retro-Feelings, fällt die Überleitung zu einem anderen aktuellen Gänsehaut-Phänomen nicht schwer. Neben dem Driver mit seiner schimmernden Jacke ist sie noch so eine Engelserscheinung aus der City of Angels. Und jeder ihrer wenigen existierenden Ausnahmesongs würde hervorragend in "Drive" passen.

Lana Del Rey

Lana Del Rey

Begehren und Enttäuschung

Ich muss zugeben, ich lese Musikblogs nur äußerst sporadisch. Als mir eine Freundin also im Spätsommer das erste Mal ein Stück von Lana Del Rey vorspielte, war mir der ganze Netz-Hype um ihre Person völlig neu. Ein Schauer hat mich aber schon beim Erstkontakt mit "Video Games" erfasst, der nie verschwunden ist.

Wir reden hier nicht von irgendeinem Song. Sondern einer Jahrhundertnummer, die es mit "Wicked Games" von Chris Isaac aufnehmen kann oder den ergreifendsten Momenten eines Angelo Badalamenti in den Filmen von David Lynch. Referenzen, die tonnenschwer über dem Schaffen von Lana Del Rey hängen und die sie alles andere als abstreitet, aber mit der selben Leichtigkeit transzendiert wie ein Nicolas Winding Refn seine Inspirationen.

In ihren billigen, aber extrem effektiven Youtube-Clips wagt sich die blutjunge US-Sängerin ganz besonders weit hinein ins Terrain ihrer Einflussquellen. Ausschnitte aus Klassikern des Hard-Boiled-Kinos untermalen mit bitterer Ironie die Songdramen, die um verlorene Frauen kreisen, um verzehrendes Begehren, rotglühende Amour Fou, kapitale Enttäuschung.

Blitzlichtaufnahmen von Stars und Sternchen lösen sich in "Video Games" ab, allesamt Absturzkandidaten auf dem Boulevard of broken dreams. Dazwischen sehen wir die führende Hollywood-Femme-Fatale unserer Tage über die Straße stolpern, Paz De La Huerta, auch eine, die regelmäßig durch ihre Leidenschaften ins Straucheln kommt, wenn man gewissen Berichten vertrauen darf. "Das ist meine Idee von Spaß", singt Lana Del Rey dazu mit der derzeit schönsten Grabesstimme des Planeten.

Lana Del Rey

Lana Del Rey

Neo(n) Noir Dramen

Ob Del Rey jetzt die eventuelle Nachfolgerin der seligen Amy Winehouse ist oder ob ihre Lippen echt sind, das interessiert mich genauso wenig wie ihr wirklicher Name. Sie bemüht sich, wie auch "Drive", um die Reanimation eines alten Americana-Vokabulars für das Hier und Jetzt, sie bringt ewige Rockabilly-Stereotypen zum Funkeln, verknüpft Trailerpark-Trash mit existentieller Schwere.

Drive

constantin film

Statt wie manche erdige Folk-Divas eine verlogene Pseudo-Authentizität vorzugaukeln, personifiziert Lana Del Rey etwas viel Besseres. Sie baut sich aus Second-Hand-Zitaten eine fiktive Glamour-Existenz, befüllt diese aber - im Gegensatz zum belanglosen Dreck da draußen, der die Ohren verklebt - mit der tragischen Essenz der Wirklichkeit. "Video Games" und ihre anderen Songs erzählen von Verlust, Selbstverlust, dem Dahindriften in einer knallbunt eingefärbten Leere.

So wie "Drive" aus seiner kriminellen Außenseiterstory keinen ausgebleichten Sozialporno macht, sondern einen knalligen Neo(n) noir-Thriller, verwandelt Lana Del Rey die Tristesse in betörende Ohrwürmer, die den Kopf nicht mehr verlassen.

Es geht also wieder einmal um Transzendenz und Transformation, um die Überzeichnung als heilende Kraft. Lasst mich mal kurz in Ruhe mit euren bodenständigen Singer-Songwritern, mit Filmen, die den Alltag der "kleinen Leute" beschreiben, mit der ohnehin offensichtlichen Banalität der Dinge. Ich kauf mir jetzt die schimmernde Jacke des Drivers, möchte dann Lana Del Rey mit meinem Sportwagen abholen, ab in die nächste Cocktailbar. Auch wenn ich keinen Führerschein habe.