Erstellt am: 19. 10. 2011 - 10:23 Uhr
Irgendwer glaubt immer an eine Verschwörung
Um ein Komplott glaubhaft zu machen, braucht es ein paar Elemente. Es braucht Verschwörer, die aus allen Teilen der Welt zusammenkommen, als Repräsentanten von Organisationen oder Sekten, die sich in die fernsten Winkel der Erde ausgebreitet haben. Ihr Treffpunkt muss ein möglichst düsterer und furchteinflößender Ort sein, eine Lichtung, eine Ruine, eine Krypta oder ein Friedhof, und da muss einer der Versammelten eine Rede halten, die ihre konspirativen Pläne offenlegt, am besten mit dem Ziel Weltherrschaft.
Die allgemeine Form jedes möglichen Komplotts
Simon Simonini, der Protagonist von Umberto Ecos „Der Friedhof in Prag“ entdeckt diese allgemeine Form jedes möglichen Komplotts in Alexandre Dumas Roman „Joseph Balsamo“. Bei Dumas sind es die Freimaurer, die sich am Donnersberg treffen um sich gegen die Monarchie in Frankreich zu wenden, aber Simonini erkennt, dass mit einem Austausch der Elemente jede beliebige Verschwörung hergestellt werden könnte.
Hanser-Verlag
Irgendwer würde immer daran glauben, wie Simonini aus Erfahrung weiß, denn er wächst im Turin des 19. Jahrhunderts auf, mitten in der italienischen Einigung, dem Risorgimento, wo das Verschwörungsdenken einen ersten Höhepunkt erreicht. Halb Europa glaubt an eine Verschwörung des Geheimbunds der Carbonari, die Sicherheitsorgane an eine der Bayrischen Illuminaten, die Jesuiten an eine Verschwörung der Freimaurer, Simoninis revolutionärer Vater wiederum an die Jesuiten und sein antisemitischer Großvater an eine jüdische Weltverschwörung.
Aus dieser Erkenntnis gilt es Gewinn zu schlagen, denn viele Gruppen sind daran interessiert, Verschwörungen belegen zu können. Und Simonini kann diese Belege herstellen, denn er hat ein wunderbares Talent zur Imitation von Handschriften und zur Fälschung von Dokumenten. Seine Auftraggeber verteilen sich über ganz Europa, angefangen vom piemontesischen Geheimdienst über die Freimaurer und Jesuiten bis zu den Geheimdiensten von Frankreich, Deutschland und der gefürchteten Ochrana, dem Geheimdienst des zaristischen Russlands.
Ein Buch über Bücher
Wie alle Romane Umberto Ecos handelt auch dieser von Büchern, denn Simonini lässt sich für seine Aufträge von der Literatur inspirieren, von Abbé Barruel, über Eugène Sue und Maurice Joly. Sie alle haben über Verschwörungen geschrieben. Simonini führt die verschiedenen Texte zusammen und bringt sie in einen Bezug zum Judentum, denn den antijüdischen Markt schätzt Simonini am größten ein. Er entscheidet sich für den jüdischen Friedhof von Prag als Ort für sein Komplott, auf den er beim Stöbern in der Bibliothek stößt und für alle seine Kunden hat er Hinweise parat: für die Monarchen und Regierungen Welteroberungspläne, für die Sozialisten, Anarchisten und Revolutionäre den Besitz des Goldes, für Papst und Kirche die Zerstörung der christlichen Prinzipien.
Um das Komplott möglichst vielen Gruppen zu verkaufen, nimmt Simonini sogar eine zweite Persönlichkeit an, die eines jesuitischen Paters. Am Ende des Romanes stehen die „Protokolle der Weisen von Zion“, eine jüdische Weltverschwörungsfälschung, die im Nationalsozialismus großen Einfluss hatte und auch heute noch von manchen Gruppen als echt angesehen wird.
Umberto Eco gibt seinen LeserInnen einen Einblick in das Verschwörungsdenken, das vor allem auf Wiederholungen setzt. Um glaubhaft zu sein, dürfen Verschwörungen nicht originell sein, sondern nur erzählen, was die Leute schon gehört haben. Verschwörungstheorien sind befriedigend, weil die die Komplexität der Realität reduzieren und eine Antwort auf die Fragen geben, warum einem selbst das Glück nicht hold ist und immer andere bevorzugt werden. Außerdem bieten sie einen Schuldigen an.
Die Protokolle der Weisen von Zion
Wie die Juden zum Mittelpunkt der Verschwörungstheorien geworden sind, hat Eco schon vor einigen Jahren in seinen Harvard-Lectures nachgewiesen, die später als „Im Wald der Fiktionen“ veröffentlicht worden sind. Dass die „Protokolle der Weisen von Zion“ aus vielen alten Texten bestehen, die ursprünglich keinen Bezug zum Judentum hatten, bringt Eco mit „Der Friedhof in Prag“ nun in Romanform. Mit Ausnahme des Protagonisten hätten alle Personen im Roman auch real existiert und hätten gesagt und getan, was sie im Buch sagen und tun, schreibt der Autor im Appendix, nachdem er in dem Roman vorangestellten Zitat klargemacht hat, dass er einige spektakuläre Szenen eingebaut hat.
Heute, am 19. Oktober um 20:00 wird Umberto Eco im Burgtheater aus "Der Friedhof in Prag" lesen.
Die Anzahl der Personen und die Dichte der Handlung im Roman kann durchaus zu Verwirrung führen, erstreckt sich der Roman doch über das halbe 19. Jahrhundert und über den halben Kontinent, von der italienischen Einigung, Garbialdis „Zug der Tausend“ , über den Deutsch-Französichen Krieg und der Pariser Kommune bis zur Dreyfus-Affäre. Eco erzählt den Roman retrospektiv in Form des Tagebuchs von Simonini, der zu Beginn unter Gedächtnisverlust und unter einer Persönlichkeitsspaltung leidet. Wie immer bei Eco gilt, wer mehr über die historischen Vorgänge weiß, kann mehr für sich herausholen und vor allem mehr lachen, in diesem Fall hätte Eco aber straffer erzählen können. Die „Story“ ist für den „Plot“ zu lang, sodass man schon fast sehnsüchtig auf das Ende wartet wo Story und Plot zusammengeführt werden, der Grund des Gedächtnisverlusts des Protagonisten. Bei Eco muss dies fast zwangsläufig ein großer Knall sein, doch bei der Länge der Zündschnur werden den nicht mehr alle LeserInnen erleben.