Erstellt am: 17. 10. 2011 - 21:17 Uhr
Journal 2011. Eintrag 187.
2011 ist Journal-Jahr - wie schon 2003, 2005, 2007 und 2009. Das heißt: Ein täglicher Eintrag, der als Anregungs- und Denkfutter dienen soll, Fußball-Journal '11 inklusive.
Hier finden sich täglich Geschichten und/oder Analysen, die ich als passionierter Medien-Konsument selber gern gelesen/-sehen/-hört hätte, aber nirgendwo (oder nur unzureichend) finden konnte; und deshalb selber ausforschen und durchdenken muss.
Heute mit einer Fortsetzung zu Journal 2011, Eintrag 186: Demo-Kultur, oder: wer ist das Volk? vom Samstag.
Backstory heißt das CNN-Programm, das ich zufällig erwische, und es kündigt einen Blick hinter die Geschichte der Occupy-Demos, die den Samstag weltweit stattgefunden haben, an. Und hält dieses Versprechen, partiell. Ich erfahre etwas über die von der Wall-Street finanzierten "Gegenbewegung" der 53 percent und sehe einen Parodie-Beitrag über die fiktive 1-percent-Bewegung der Investment-Banker. Alles Belege dafür wie tief sich die Occupy- bzw. die "we are the 99 percent"-Bewegung nach bereits wenigen Tagen ins kollektive Bewusstsein eingegraben hat.
Dann kommt natürlich auch der unvermeidliche Analyst mit der Krawatte, von dem der Backstory-Moderator dann eine als objektive Einschätzung getarnte Meinung will.
Der Mann bemüht sich, weil er kein Prohaska ist, sondern dem US-amerikanischen Journalisten-Ethos untersteht. (Wenn ich hier pathetisch klinge: Ich hab am Wochenende wieder einmal All the President's Men gesehen. Und bin wie immer von der Darstellung einer längst verflossenen Welt der journalistischen Recherche - mit dem Telefon, dem Archiv, der Bibliothek und dem Notizblock als rudimentären Arbeitsmitteln - die ich selber noch ansatzweise erlebt habe, angerührt ...)
Sich mit der Anklage begnügen oder Beteiligung anstreben
Und holt deswegen zu einem scheinbar gewagten Vergleich aus. Diese Anfänge der Occupy-Bewegung erinnerten ihn an die Anfänge der Tea Party, ehe die dann von jenen der GOP (also den Republikanern) mehr als nur nahestehenden Figuren am rechten Rand einkassiert wurde. Hier wie da wären aus einer massiven Unzufriedenheit entwachsenes ehrliches Engagement zu spüren. Und da wie dort steht man dann irgendwann vor der zentralen strategischen Frage: engage or attack?
Begnügt man sich seiner Frustration Ausdruck zu verleihen, bleibt man in der Phase der Anklage stecken, oder sortiert man sich so, dass es zu einem Engagement, dem Versuch politischen Einfluss zu nehmen, kommt.
Der Analyst spricht natürlich nur von Vorgängen innerhalb des Systems: Er ist kein Träumer, er trägt nicht zu Unrecht seine Krawatte.
Er spricht das aus, was aktuell kaum einer der Occupy-Demonstranten wirklich hören will. Die sind aktuell (weltweit) dabei ihre noch recht divergenten, diffusen und heterogenen Anliegen auf einen Nenner zu bringen; und sie erleben diese Proteste als durchaus lustvollen Akt. Das muss nicht automatisch Party oder schierer Aktionismus sein: Dem 48-jährigen Bankangestellten, der das allererste Mal überhaupt auf die Straße geht, kann allein diese Ungewöhnlichkeit Lust bereiten. Da ist nichts Böses dabei, auch wenn manch selbsternannter Polit-Sheriff da gleich Zeter und Mordio schreit.
Die Angst vor der verfrühten strategischen Positionierung
Gerade dieser Novelty-Effekt verhindert aber natürlich das, was der Analyst mit der Krawatte jetzt als vordringlich einfordert: die strategische Positionierung. Weshalb dem einfachsten Reflex nachgegeben und die Notwendigkeit einer vielleicht verfrühten Einbindung einer Bewegung in vorhandene politische Strukturen bestritten wird.
Da ist der Analyst mit der Krawatte dann einfach ein Spaßverderber.
Als diese Viertelstunde Occupy auf CNN dann vorbei ist, fällt mir etwas durchaus Erschreckendes auf: Der Analyst mit der Krawatte, das bin auch ich.
Nicht im diesem Fall, auch nicht durchgehend auf lokaler österreichischer Ebene, aber doch recht oft. Ein wenig hier im Journal, und noch viel mehr im wirklichen Leben, wenn ich irgendwo als Gast-Krokodil, als querlaufende kritische Stimme eingeladen bin, oder wenn Menschen bei Projekten um Rat fragen. Dabei ist es egal, ob es sich um Medien-Themen oder um Fragen zur aktuellen Demokratie-Krise handelt, um den verdammten österreichischen Fußball oder die heimische Musikszene.
Ach, der Spielverderber!
Meist bin ich der Analyst mit der Krawatte, der dann genau diese Sätze sagt. Dass man sich eben entscheiden müsse, ob man es bei reiner Attacke belassen oder sich konkret engagieren und dabei das System von innen aufrollen will. Und ich kenne die Wirkung dieser Sätze: Keiner will sie hören. Alle ziehen ihr Ach-der-Spielverderber-Gesicht. So wie es mir beim CNN-Krawatten-Heini gegangen ist.
Wahrscheinlich ist dieses Gesichter-Ziehen aber ein westliches Phänomen. Ich denke nicht, dass es den Tahrir-Demonstranten oder den Jasmin-Revolteuren schwergefallen ist diese Entscheidung zu treffen. Weil dort mehr auf dem Spiel stand als jetzt in den teilokkupierten Inner Cities, weil da deutlich mehr Risiko dabei war. Und dieses Risiko wollte man dann wohl eher für eine aussichtsreichere Widerständigkeit in Kauf nehmen als für eine womöglich psychisch befreiende Wohlfühl-Aktion.
Genau an diesem Punkt stehen wir jetzt.
Ich sag' nicht, was ich denke.
Dazu müsste ich mir erst eine Krawatte kaufen.