Erstellt am: 18. 10. 2011 - 15:03 Uhr
Die Liebeshandlung
Wer geht mit wem ins Bett? Und, noch viel wichtiger: Wer ist vergeben, und wer ist noch zu haben?
Wenn man sich eingesteht, dass sich die Welt mit Anfang 20 fast ausschließlich um diese Fragen dreht, dann erfindet man entweder das Wort „Beziehungsstatus“ und wird mit Facebook Multimillionär. Oder man schreibt ein Buch darüber. Jeffrey Eugenides hat das getan - das fette Stück nennt sich "Die Liebeshandlung".
rowohlt
Eugenides greift bei seinem aktuellen Roman auf popkulturelles Allgemeingut zurück, auf Dinge, an die wir uns gerne erinnern. Eine Art "Wickie, Slime und Paiper" im intellektuellen Studentenmilieu. Madeleine, Mitchell und Leonard studieren Anfang der Achtziger an der Brown University. Kellner tragen Elvis-Costello-Brillen, Mütter beschweren sich über die Schulterpölster ihrer Töchter, Friseure bieten Annie-Lennox-Schnitte an, und für ein bisschen postmodernen Look werden schon mal die Augenbrauen abrasiert. Seine Hauptfiguren bewegen sich im Dreieck, ein bekanntes Gespann: Eine Frau zwischen zwei Männern, der eine Frauenheld, der andere der ewige beste Freund.
What the fck?
Bereits der Titel verrät, welche Frage den Autor beschäftigt: Wie können wir die profanste und gleichzeitig spannendste Handlung unserer Spezies, die Liebeshandlung, erklären? Warum kommt es zum Sex? Warum kommt es so oft eben nicht zum Sex? Eugenides' Roman ist eine Annäherung an das Paarungsverhalten des Säugetiers Mensch, wobei er einfache biologische Erklärungen gewissentlich auslässt. Statt dessen wählt er geisteswissenschaftliche Zugänge, stationiert seine drei jungen Suchenden an der Universität und konfrontiert nicht nur sie, sondern auch uns, die Leserschaft, mit Auszügen und Zusammenfassungen großer Werke verschiedenster Studienrichtungen. Der Sprachwissenschaftler Roland Barthes wird zitiert, der Philosoph Jacques Derrida wird zum Coolness-Maßstab, junge Feministinnen wedeln mit Julia Kristeva, und über allem schwebt die Dekonstruktion der modernen Welt.
Madeleine wurde den Verdacht nicht los, dass die meisten Semiotik-Theoretiker als Kinder unbeliebt gewesen waren und man sie oft schikaniert oder übergangen haben musste, weshalb sie ihre unverdaute Wut später auf die Literatur gerichtet hatten. Sie wollten den Autor degradieren. Sie wollten, dass ein Buch, dieses mühsam erkämpfte, transzendente Ding, ein Text sei, zufällig, unbestimmt und offen in seiner Bedeutung. Sie wollten den Leser zur Hauptsache machen. Wie sie Leser waren.
Chemicals will hit you
Leonard, der Frauenheld, kämpft nicht nur mit der Liebe, sondern vor allem mit seiner Krankheit: er ist manisch-depressiv. Es ist die chemische Facette der Liebe, wenn man so sagen möchte. Mit feiner Beobachtungsgabe beschreibt der Autor, wie sich die Libido durch Medikamenteneinnahme verändert, wie körpereigenen Botenstoffe ein und den selben Menschen zum unfehlbaren Liebhaber genauso wie zum phlegmatischen Versager werden lassen.
Und Mitchell, der beste Kumpel, der nie über die Bettkante kommt - sich an der Liebe also durch unfreiwillige Abstinenz abarbeitet - findet Antworten in der Theologie. Auch sein Studium ist ein Querschnitt theologischer Debatten verschiedener Jahrhunderte. Seine Sinnsuche führt ihn als Rucksacktourist, das Kreuz um den Hals baumelnd und mit einem Empfehlungsschreiben fürs Priesterseminar in der Tasche, bis nach Indien.
Ein Kniefall vor der Wissenschaft
Jeffrey Eugenides ist ein großartiger Erzähler. Zu Recht haben ihn seine Romane „The Virgin Suicides“ und „Middlesex“ zu einem der bedeutendsten Autoren der amerikanischen Gegenwartsliteratur gemacht. In seinem dritten Roman wechselt er in die Rolle des überschäumenden Professors; hier muss uns jemand beweisen, wie viele Pro-Seminare er besucht und wie ordentlich er seine Hausaufgaben gemacht hat. Ein Kniefall vor der Wissenschaft, der streckenweise viel Geduld verlangt, nach 600 Seiten aber mit dem Gefühl belohnt, um einiges klüger geworden zu sein.