Erstellt am: 15. 10. 2011 - 21:20 Uhr
Journal 2011. Eintrag 186.
2011 ist Journal-Jahr - wie schon 2003, 2005, 2007 und 2009. Das heißt: Ein täglicher Eintrag, der als Anregungs- und Denkfutter dienen soll, Fußball-Journal '11 inklusive.
Hier finden sich täglich Geschichten und/oder Analysen, die ich als passionierter Medien-Konsument selber gern gelesen/-sehen/-hört hätte, aber nirgendwo (oder nur unzureichend) finden konnte; und deshalb selber ausforschen und durchdenken muss.
Heute mit einer formalen Anmerkung zum heutigen Occupy-Demonstrations-Tag.
Heute Samstag, früher Nachmittag, Mariahilferstraße Wien. Dass hier um diese Zeit Demonstrationszüge durch die Mahü führen, hat eine gewisse Tradition. Treffen vor dem Westbahnhof und dann rein in die Stadt zum jeweiligen Ziel, das kommt - gefühlt - jeden dritten Samstag vor. Oft sind es kleine Gruppen mit Special Interest-Anliegen: Kurden, Tierschützer, K-Gruppen... Manchmal sind es fette Demo-Züge mit Wagenbegleitung und Party-Charakter, wie bei der Hanf-Parade.
Der Ablauf ist in jedem Fall klassisch: Sprechchor-Animateure mit Lautsprechern, vor allem im vorderen Bereich geschlossene Reihen und vor allem Transparente, von mehreren Menschen fahrbahnübergreifend getragen.
Das ist das Bild, das wir von Demos haben, nicht erst seit den 68er-Märschen, den Anti-AKW/Hainsburg-Bewegungen, sondern seit jeher, seit den Anfängen in der Arbeiterbewegung. Die Demo in Chaplins Modern Times etwa, die in der großartigen Red Flag-Szene mündet - die kann als filmisch nur dezent in seiner Dynamik überhöhter Prototyp angesehen werden, wohl aber die Welt von Sacco & Vanzetti widerspiegelt.
Kollektivismus vs. Individualismus
In den USA hat sich diese Demo-Kultur anders entwickelt. Das hat mit dem alles überwuchernden hysterischen Anti-Kommunismus zu tun, der dort die Nachkriegszeit überstrahlte. Alles, was mit den Commies, den Reds, dem Erzfeind zu tun hatte, musste raus; auch aus den Demo-Konventionen.
Das Bild der klassischen US-Demo der Neuzeit, das transportiert Hollywood, das zeigt das Fernsehen: da gibt es keine marschierenden Fronten, sondern maximal Friedensmärsche, ohne viel Transparent-Gewachel; da gibt es eher an picket-lines erinnernde statische Demos, von so normal wie möglich aussehen wollenden Kontestanten mit soviel Individualismus wie möglich vorgetragen.
Das zentrale Symbol dieser Demo-Ordnung: der individuell gestaltete Papp-Karton, der - an einen Stab gebunden - vom Individuum in die Höhe gereckt wird. Von den unter einem gemeinsamen Transparent losziehenden Fronten ist da nichts zu sehen.
Das ist ein bewusst gesetzter Kultur-Unterschied. Er betont die Individualisierung, er verwehrt sich gegen die Kollektivierung.
Klassische Transparente vs. mediale Symbolik
Dass eine Demonstration per se Ausdruck eines kollektiven Unwohlseins ist, dass Demonstranten erst dann zusammenfinden können, wenn sie einen kollektiven Gedanken fassen, wird durch diesen bewusst visualisierten Individualismus konterkariert. Und es hat durchaus den Anschein, als wäre das ein gesellschaftliches Zugeständnis an den American spirit.
Warum ich diesen Unterschied so herausstreiche?
Weil der heutige Mariahilferstraßen-Demo-Zug beides bereithielt. Die klassischen organisierten Kader versammelten sich, wie zu Chaplins Zeiten, unter den Transparenten und verrieten so ihre Schulung in altmarxistischen Kreisen; die neuen, durch die Occupy-Bewegung herbeigelockten Demonstranten, haben sich so verhalten, wie sie es bei Occupy Wall Street vorgeführt bekommen.
fiedler, fm4
Da mischt sich dann auch die Anonymus-Maske, die an sich gar kein Schild oder Transparent braucht, sondern durch die Verwendung dieses starken Symbols selbst schon Aussage genug trifft, mit dem, was die We are the 99percent-Bewegung losgetreten hat.
Dieses kulturelle Mischmasch bricht das schon ein wenig in Ritualisierung erstarrte österreichische Demo-Modell auf. Für die alten, traurig im vorigen Jahrhundert hängengebliebenen K-Gruppen wäre das ein weiterer Fingerzeig, wie man Botschaften kommuniziert.
Handfeste Symptom-Bekämpfung vs. konkrete Struktur-Kritik
Denn, jede Wette, die schon rein sprachlich und natürlich ideologisch altbacken-angestaubten Parolen, die die Alt-Demonstranten auf ihre Transparente gesprüht haben, die liest keiner. Die durchaus kreativen, oft sehr konkreten Einzel-Pappkartons dieses Demo-Zugs sorgten am Straßenrand für deutlich mehr Interesse.
Klar, wenn zufällig gerade der starke Arm des ÖGB alle Metaller-Räder stillstehen lässt, ist der gute alte Arbeitskampf samt guter alter Demo-Ordnung scheinbar on top. Letztlich sehen wir hier aber nur ritualisiertes Gehabe, das sich an handfesten Symptomen abarbeitet, die dahinterliegenden Strukturen aber nicht anzufassen wagt.
Das schaffen aktuell die nicht mehr durch alte Strukturen, sondern durch neue Medien organisierten 99percent. Und in diesem Licht ist die Idee der kollektivistischen Demo-Kultur dann doch bereits allzusehr ausgereizt; und die individualistische Variante formal deutlich passender. Sie verdichten ihre Botschaften nicht zufällig zu Bildern, auch wenn sie mit Text arbeiten.
PS: Mir fällt gerade ein/auf, dass die Wir sind das Volk-Demos, die den Untergang des morschen DDR-Systems nach sich gezogen haben, mit ähnlichen Mitteln vorgegangen sind wie die, die heute mit dem Ruf nach echter Demokratie auf die Straße gegangen sind.