Erstellt am: 15. 10. 2011 - 18:25 Uhr
Wollte sich wer empören?
"Heute gibt's die große Empörung!" twittert M. in der Früh und der 15. Oktober 2011 beginnt damit, dass jene, die nicht auf Facebook registriert sind, das lokale Programm für den ausgerufenen Aktionstag für globalen Wandel nicht einsehen können. Empören sich nur die üblichen Verdächtigen? Sind am Ende des Tages die Metaller engagierter? Schwärmt die kollektive Intelligenz, die sich in Online-Petitonen und Foren sammelt, doch nicht aus?
"Noch vor einer Generation bezeichnete das Wort Engagement die vorübergehende Anstellung von Schauspielern am Theater, beispielsweise für eine Saison. Heutzutage ist Engagement zum festen moralischen Begriff geworden." Das ist im Magazin brand eins zu lesen. Einer, der zu Empörung aufruft und Engagement für mehr als angebracht hält, ist der 93jährige Stéphane Hessel. Seine Pamphlets waren Bestseller in Europa. Hessel sagt: Wir dürfen uns nicht einschüchtern lassen durch „die aktuelle internationale Diktatur der Finanzmärkte, die den Frieden und die Demokratie bedrohen.“ Heute, am weltweit ausgerufenen Tag der Empörung, ist Hessel in Graz.
Radio FM4
Am Mariahilfer Platz wird ein Speakers Corner eingerichtet. Um 18:30 wird Stéphane Hessel erwartet, zuvor hat er sich im Rathaus ins Goldene Buch der Stadt eingetragen. Am Hauptplatz war indes von Protest nichts zu merken. Mit kleinen, wohlüberlegten Aktionen haben sich Engagierte vom Spektral, Mitglieder von Attac oder an der Plattform 25 Beteiligte überwiegend am rechten Murufer gehalten.
Leni Kastl ist mit ihren Stricknadeln zur Keplerbrücke aufgebrochen, ihre Handarbeit will sie als Zeichen für mehr soziale Wärme wissen. Obwohl sie eine schnelle Strickerin ist: Mit weiteren Wollknäueln will Kastl in den nächsten Wochen ausrücken und der Brücke Maschen machen.
Radio FM4 | Maria Motter
Radio FM4 | Maria Motter
Das Private ist politisch, das finden auch fünf junge Männer. Sie haben Sofas auf den Südtiroler Platz getragen und es sich erst mal bequem gemacht. Mit Megaphon-Imitaten aus Papier und freundlichen Fragen kommt die mobile Sitzgruppe auch bei Passanten gut an. Ein älterer Herr bekundet sein Wohlgefallen und fragt: "Nur: Das Problem der Einwanderer wird da nicht behandelt! Das ist das große Problem? Hören Sie zu: Ungefähr siebzig Prozent sind Hilfsarbeiter, was machen wir dann mit all denen?" Als ihm einer der jungen Männer am Sofa antworten will, ist er schon auf der nächsten Straßenseite.
Radio FM4 | Maria Motter
Das Kernteam des Lendwirbels wird später noch den "Global Change Day" nützen, um dem Platz ohne Namen zwischen Mariahilfer und Lendplatz endlich ein Schild zu verpassen: "Hier ist Platz" wird dann offiziell auf einem grünen Schild stehen.
Es sind Grätzel-Aktionen, die heute gesetzt werden, die keinem weh tun und im besten Fall ein zustimmendes Lächeln bekommen. Protest sieht anders aus.
Occupy a bit of Vienna
von Michael Fiedler
FM4
Der Wiener Ableger des weltweiten Aktionstages fängt um 12 Uhr am Heldenplatz an. Dafür, dass genau fünf Personen ihre Teilnahme auf Facebook angekündigt haben, sind die knapp 150 Leute zwar überraschend viel, aber nicht heldenplatzfüllend. Und die spontan angesprochenen russischen Touristinnen wollen auch nicht mitdemonstrieren. "Lasst uns einen großen Kreis bilden und darüber reden, wie es uns mit der momentanen Situation so geht", sagt ein junger Mann. Und dann wird tatsächlich im Kreis gesungen. Wenn es wenigstens Protestlieder wären.
"Wir sind die Arbeiter von Wien" schallt es einem dann um 15 Uhr am (irgendwie unpassenden) Christian-Broda-Platz beim Westbahnhof entgegen. Dummerweise aus Lautsprechern der KPÖ. Oder war es die SLP? An sich egal, denn die Bewegung will parteifrei sein - und das ist einer der Kernpunkte der wichtigsten in letzter Zeit entstandenen BürgerInnenbewegungen. Doch wie so oft tauchen die üblichen Verdächtigen zwischen trotzkistischen Antifaschisten und propalästinensischen Maoisten auf, schwingen ihre Logos auf Fahnen und verteilen Flugblätter. Auf einem selbstgemalten Plakat steht zwischen Neonherzchen tatsächlich: "Friede, Freude, Sonnenschein, das wird Kommunismus sein." Da hat jemand nicht verstanden, dass jedes bisherige kommunistische Experiment unter anderem an der Gier gescheitert ist, die von der Occupy-Bewegung kritisiert wird.
Deren Forderungen sind teilweise recht unkonkret, aber von vielen hier hört man "Abschaffung des Zinssystems" und "Vermögenssteuern einführen".
Letztlich ziehen so um die 1000 Menschen, laut Twitter um die 2000, von jungen Hipstern bis zu alten Hippies, die Mariahilferstraße Richtung Heldenplatz. Vorbei an tausenden verständnislos dreinblickenden KonsumentInnen.