Erstellt am: 14. 10. 2011 - 16:43 Uhr
Der Feind im Inneren
Interview: Nicole Selmer
ballesterer: Ein "blindwütiger Mob" – so wurden die randalierenden Jugendlichen in England häufig beschrieben. Was denken Sie über diese Aussage, und welche Verbindung gibt es zur Sicht auf Fußballfans?
Clifford Stott (46) ist Dozent für Psychologie an der Universität Liverpool und arbeitet zu den Themen Massenpsychologie, Fußball und Polizeitaktik. Gemeinsam mit Geoff Pearson veröffentlichte er 2007 das Buch "Football 'Hooliganism'. Policing and the War on the 'English Disease'". Derzeit schreibt er mit Steve Reicher ein E-Book über die Riots unter dem Titel "Mad mobs and Englishmen? Myths and realities of the 2011 riots".

wynne mccoy
Clifford Stott: Die Terminologie rund um die Riots hat sich tatsächlich stark auf den Begriff der "mindlessness", der Blindwütigkeit, fokussiert: ein blindwütiger, krimineller Mob. Dahinter steht die Idee, dass die Ursache der Riots in den Menschen selbst liegt. Dass diejenigen, die randalieren, von Natur aus kriminell oder sonst wie problematisch sind. Bei Fußballgewalt wird auch oft von unkontrollierbarem Hooliganismus gesprochen und davon, dass die Aufregung und Anspannung der Masse ansteckend ist und sich ansonsten gesetzestreue Bürger zur Gewalt hingezogen fühlen und zu blindwütigen Idioten werden.
Welche Auswirkung hat diese Einstellung auf den Umgang mit den Riots?
Sie entlässt Staat, Regierung und Polizei aus der Verantwortung. Denn die Ausschreitungen geschehen nach dieser Sichtweise aufgrund bestimmter Eigenschaften der Randalierer oder weil die Masse ansteckend wirkt. Gewalt verbreitet sich quasi wie eine Krankheit. Solche Erklärungen werden von Machthabern und Regierungen schon seit Jahrhunderten verwendet, wenn es um öffentliche Aufstände geht, und sie haben sich immer als falsch erwiesen. Die Analysen zeigen, dass es nicht um die Eigenschaften der Menschen geht, sondern um die sozialen Bedingungen, unter denen sie leben. Dennoch setzen Regierung und Polizei vor allem auf Repression.
Sie trainieren Polizisten für Einsätze bei internationalen Fußballturnieren. Wie kann sich die Polizei anders verhalten, wie kann sie eine andere Sicht gewinnen?
Dieser Artikel ist im Fußballmagazin ballesterer.fm erschienen.
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des ballesterer.fm
In Europa gibt es den Trend, bei Polizeieinsätzen rund um Fußballturniere weniger stark auf konfrontatives Verhalten zu setzen. Das beruht auf einer modernen Sicht auf das Verhalten von Menschenmengen und auf der sogenannten Legitimität. Wenn es gelingt, Fußballfans oder anderen Massen den Eindruck von legitimem Polizeiverhalten zu vermitteln, verhindert das die Entstehung von Ausschreitungen. Das Ziel darf nicht die Eindämmung von Riots sein, sondern ein "public order management".
Bei brisanten Spielpaarungen gibt es eine Reihe von Fans beider Mannschaften, die ein gewisses Risiko darstellen. Dieses Risiko muss gemanagt werden, und das geschieht am besten, indem die Polizei darauf setzt, eine Beziehung zu diesen Gruppen aufzubauen, mit ihnen zu verhandeln. Und zwar so, dass Konflikte gar nicht erst entstehen.
Wie hätte diese Taktik bei den Ausschreitungen ausgesehen?
Die Riots haben in Tottenham begonnen, im Anschluss an einen friedlichen Protest der Familie von Mark Duggan, der zwei Tage zuvor von der Polizei erschossen wurde. Auch die Anwohner, vor allem aus der schwarzen Community, haben protestiert. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten die Angehörigen von der Polizei keine Erklärung für Marks Tod erhalten, es gab keinen "family liaison officer".
Für mich – ebenso wie für viele andere Beobachter – ist offensichtlich, dass es an diesem Samstagnachmittag keinen Protest und damit auch in der Folge keine Krawalle gegeben hätte, wenn die Polizei auf Dialog und Kommunikation gesetzt hätte. So hat die Polizei nichts anderes getan, als die Gewalt zu bekämpfen. Und dabei geht es am Ende nur mehr um die Frage, wie groß der Schaden sein wird.
Während der Riots wurden Fußballspiele als Bedrohung der öffentlichen Ordnung betrachtet ...
Einige Medien – selbst ein Leitartikel des linksliberalen Guardian – sprachen sich dafür aus, die Fußballspiele während der Riots abzusagen. Fans wurden in ganz ähnlicher Weise pathologisiert wie die Rioter. Als wären sie eine Krankheit, die sich ausbreiten könnte. Fußballspiele würden für eine landesweite Mobilisierung von Fans und damit für noch mehr Ausschreitungen sorgen. Dabei sind Fans nicht gleichzusetzen mit Hooligans oder Rassisten. Sie sind normale Bürger, die am Matchtag zusammenkommen. Das hätte geholfen, die Normalität wiederherzustellen und die Angst vieler Menschen zu überwinden.
Fußballspiele waren kein zusätzliches Problem, sondern eine Gelegenheit, zum Alltag zurückzukehren. Ebenso wie heute die Randalierer wurden die Fußballfans in England vor nicht allzu langer Zeit pauschal als "Feind im Inneren" dargestellt. Aber diese Darstellung entspricht in beiden Fällen nicht der Wahrheit. Wir reden hier von Argumenten mit weitreichenden ideologischen Folgen. Es geht dabei nicht um Lösungen, sondern darum, der Regierung die Grundlage für eine reaktionäre Law-and-Order-Politik zu liefern.
Haben Fußballfans bei den Riots eigentlich eine Rolle gespielt?
Es hat in London eine Mobilisierung von Fangruppen oder genauer von "Firms" gegeben – große Gruppen von weißen Fans, die sich zusammengeschlossen haben, um die Rioter anzugreifen. Unter ihnen waren auch rechtsextreme Aktivisten. Wir haben derzeit in England eine Unterwanderung und Mobilisierung von Fußballfans durch rechtsextreme Organisationen wie die English Defence League und die British National Party.

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Für sie waren die Randalierer gleichzusetzen mit Schwarzen. Daher sind die Gruppen durch bestimmte Londoner Bezirke gezogen und haben junge Schwarze angegriffen. Das war eine sehr gefährliche Situation, rassistische Unruhen lagen in der Luft.
Fußballer wie David James und Rio Ferdinand haben während der Riots ebenfalls Stellung bezogen. Was halten Sie davon?
Heute regiert im Fußball eine reiche, mächtige, elitäre Oligarchie: Multimillionäre, die keine Verbindung haben zu dem Leben der Menschen, die an den Krawallen beteiligt waren, zu ihrer Entrechtung und Verzweiflung. In den sozial unterprivilegierten Bezirken fehlt es an Hoffnung, an Aufstiegsmöglichkeiten – welcher Millionär kann das verstehen, egal woher er selbst kommt?
David James gilt als der intellektuellste englische Fußballer, und ich respektiere ihn sehr. Aus seinen Worten spricht die Erkenntnis, dass Fußball ein Weg sein kann, um die Menschen zu erreichen, die Gewalt als legitime Reaktion auf ihre Situation betrachten. Fußball hat eine Verantwortung – für mehr Engagement und für die Herausbildung einer positiven Identität.
Der Fußball der Premier League hat sich hier in einer Weise distanziert, die Teil des Problems ist. In Deutschland gibt es ein Bemühen um faire Ticketpreise, um günstige Stehplätze, damit auch den sozial schwächeren der Gesellschaft ein Stadionbesuch möglich ist. Und es gibt Fanprojekte, die den Zugang zu problematischen jungen Fans suchen. Das alles haben wir in England nicht. Mein Punkt ist: Wir müssen aufhören, Fußball und Fans als Teil des Problems zu betrachten, denn tatsächlich können sie Teil der Lösung sozialer Konflikte sein.