Erstellt am: 12. 10. 2011 - 22:39 Uhr
Journal 2011. Eintrag 184.
2011 ist Journal-Jahr - wie schon 2003, 2005, 2007 und 2009. Das heißt: Ein täglicher Eintrag, der als Anregungs- und Denkfutter dienen soll, Fußball-Journal '11 inklusive.
Hier finden sich täglich Geschichten und/oder Analysen, die ich als passionierter Medien-Konsument selber gern gelesen/-sehen/-hört hätte, aber nirgendwo (oder nur unzureichend) finden konnte; und deshalb selber ausforschen und durchdenken muss.
Heute mit einen Bekenntnis zu Luther.
Ich stecke gerade echt tief in Luther drin. Ein Stück mehr als mir lieb ist.
Das kam so: Sonst speichere ich mir die einstündigen Happen jeden Montag, wenn sie auf ZDFneo laufen, runter. Diesen Montag hab ich das vergessen.
Ich bin einer dieser Menschen, die Serien in rituellen Abständen sehen wollen; Minimum - jede Woche.
Das hat zum einen mit der Ahnung von Kollektivität zu tun; der Möglichkeit dass genau zu dem Zeitpunkt, wo ich mir Schrecken und Rührung reinziehe, auch eine Menge anderer Menschen genau dasselbe tun. Einheit von Ort.
Zum anderen sind einige Serien ja auch so konzipiert, dass sie ihre Handlung im Wochenabstand passieren lassen. Einheit von Zeit.
Bei Luther ist das nicht so.
Luther ist eine schmale, bislang gerade einmal zehn Folgen umfassende Reihe. Trotzdem tut ein gewisser Rhythmus Not. Und: Einmal Luther pro Woche reicht.
Luther; BBC, SCU DSI, DCI, DS, ...
Luther ist ein Polizei-Krimi der BBC; einer, der durchaus Grenzen von Anstand und Scham überschreitet - eine eindringliche Stunde, die in ihrer Atmosphäre an Cracker gemahnt, an die besten Arbeiten der düster-realistischen Schule anschließen kann.
Zudem spielt der Mann, der eine der vielleicht eindringlichsten Figuren der gesamten TV-/Filmgeschichte dargestellt hat (nämlich den Stringer Bell aus The Wire den John Luther).
Das bedeutet: eine anstrengende, nachtragende Stunde an Sozialstudie, Kammerspiel, Drama und überwundenen Krimi-Traditionen. Das reicht für eine Woche.
Diesen Montag nun hab ich vergessen. Auf Episode 6, das Finale der kurzen ersten Staffel. Und das obwohl Episode 5 schon klargemacht hat, dass das Ensemble in die tiefsten Untiefen griechischen Tragödienstoffs eintreten werden. Vergessen.
Also musste ich mir Episode 6 aus dem Netz holen.
Ich mache das ungern.
Nicht weil es mühsam ist - Luther kriegt man ganz easy, auf mehreren Wegen - sondern weil in diesen Fällen gern die Konstanz verloren geht.
Idris Elba, der beste Stringer Bell von allen, ist John Luther
Denn als ich dann gestern Episode 6 nachgeholt habe, war schon währenddessen klar, was als nächstes passiert: Ich suche mir Staffel 2, Episode 1 raus und schau gleich rein. Und dann Ep. 2 usw.
bbc
Die Wochen-Logik geht über Bord; der Drang sofort weiterzuschauen ist stärker als die Vernunft, die sich aus dem sanften Rhythmus speist. Und natürlich übersehe ich dann, wie sehr sich so was anhängt, wie eine Reihe, die nachtragend ist und sich nicht für den schnellen Hintereinander-Konsum eignet, dann eine Herrschafts-Dynamik entwickelt.
Statt einmal die Woche einzureiten, Eindruck zu machen, und dann zu sickern, zu sacken und subkutan zu wirken, fährt Luther über mich drüber. Es ist so wie bei einem zu großen Topf Kompott, einer zweiten dieser großen Pizzen oder der an einem Tag gelehrten Obstkiste: too much too fast.
Deshalb stecke ich gerade echt zu tief in Luther drin; mehr als mir lieb ist. Denn anders als beim gerade noch gedrosselten DVD-Konsum von monströsen Reinzieher-Reihen lockt Luther durch die scheinbare Leichtigkeit sich das schmale Opus jetzt husch husch einzuverleiben.
Too much too fast
Dabei ist eben gar nichts leicht an Luther.
Nicht das opening theme "Paradise Circus" von Massive Attack.
Auch die snobistisch-schnoddrige Ironie, die andere britische Reihen sonst begleitet, fehlt hier völlig.
Die Menschen sind tough und kaputt zugleich, zurechtgeschnitten von einer völlig desolaten lebensfeindlichen Stadt, einem grindig-gruseligem London, dem widerlichsten der Hauptdarsteller.
Denn egal ob sich die Handlung in der klaustrophoben Mord-Kommission, in den abgerissenen Hinterhöfen, abgewohnten Siedlungen, scheinschicken Glaspalästen oder im normalen Straßenbild bewegt - die Umgebung fordert immer ihren Tribut, saugt die Protagonisten aus, deformiert ihre Bewohner, wirkt in ihrer Gleichgültigkeit unendlich brutal.
John Luther, die Hauptfigur, der sehr spezielle raue Detective Chief Inspector, legt Idris Elba als Gegenmodell seines Stringer Bell an. War der vom Gangster zum Geschäftsmann aufgestiegene Outsider von Baltimore ein gelassen Reflektierender, der Gewalt als fast ungeliebt nötiges Mittel zur Machterhaltung ansieht, ist sein Luther ein stetig am Rande des Ausbruchs Wandelnder, der in erster Linie damit Probleme lösen will.
Stringer hat verstanden, dass Zivilisation den Schlüssel zum Aufstieg darstellt; Luther verwendet seine Gewalt als Selbstbestrafung auf der Suche nach dem Weg nach unten. Dass Elba, der Londoner Nebenerwerbs-DJ beides in gleichwohl nachvollziehbarer Weise darstellen kann, erzählt mir eine Menge über die angloamerikanischen Befindlichkeiten beiderseits des Atlantiks.
Die zeitgenössische Laokoongruppe
Luther punktet vor allem mit dem dynamisch fortschreitenden Beziehungsgeflecht seiner Figuren. Da ist Luthers Ex-/Noch-Frau Zoe, deren neuer Freund Mark North, da ist Luthers Chefin Rose Teller, sein Kollege/bester Freund Ian Reed, der neue Kollege Justin Ripley und vor allem Alice Morgan, eine geniale Wissenschaftlerin und Psychopathin, der Luther einen Mord nicht nachweisen kann, weshalb sie ihn in weiterer Folge mit Stalking-Attacken überzieht.
Wie sich dieses Ensemble in Episode 5 und 6 zu einer veritablen Laokoongruppe formiert, das ist atemberaubend und mehr als sehenswert.
Hier ein direkter Link zu allen 6 Episoden der ersten Season, in voller Länge.
Hier die vier Folgen der Series 2 in 20-Minuten-Häppchen.
Und wie bei jedem beeindruckenden Buch und bei jedem erstaunlichen Film wirkt das Geschehen nach, sorgt dafür, dass man sich Fragen zu den aufgeworfenen großen Themen, wie Loyalität, Berufs-Ethos, Schuld und Sühne stellt.
Um das nachhallen zu lassen, habe nach den ersten 20 Minuten der nächsten Episode abgebrochen, allen Lockungen zum Trotz.
Ich warte damit lieber bis zum nächsten Montag; auch wenn es möglich wäre mir den Rest von Luther noch heute Nacht einzuverleiben. Es würde mir zu starke Magenbeschwerden machen.
Außerdem wird den vier Episoden der zweiten Staffel, die im Sommer zu sehen war, 2012 eh ein dritter Jahrgang folgen. Ich kann mir also Zeit lassen.