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Robert Rotifer London/Canterbury

Themsenstrandgut von der Metropole bis zur Mündung: Bier ohne Krone, Brot wie Watte und gesalzene Butter.

11. 10. 2011 - 17:48

White Light White Heat

Über den inspirierenden und den destruktiven Einfluss von Drogen auf Pop.

Die Einladung seitens der Web-Redaktion, hier einmal was über das Verhältnis von Pop und Drogen zu schreiben, kam ja genau zur rechten Zeit. Erst neulich hatte ich mich mit Paul Rains, dem Gitarristen der Band Allo Darlin' darüber unterhalten. Warum, wollte ich von ihm an einem Spätnachmittag in Shoreditch in Umgebung diverser Musik- und Kunsttypen wissen, konsumiere denn eigentlich keiner hier irgendwelche Drogen?

Ich hatte bisher immer meinem Alter und dem damit zusammenhängenden Wandel meines Umgangs die Schuld gegeben: Wo immer ich in London Probe- oder Backstage-Räume besuche, herrscht hin und wieder Bier- aber eigentlich keine sonstige Rauschseligkeit.

Und dann ist mir aufgefallen, dass das bei den vielen Leuten in ihren frühen Zwanzigern bis Dreißigern, mit denen ich zu tun habe, ganz genauso zu sein scheint. Detto die Persönlichkeiten öffentlichen Interesses, die ich in ihren Hotelzimmern interviewe.

Das auffallende Phänomen meiner Londoner Erfahrung der letzten Jahre scheint die zunehmende Abwesenheit illegaler Substanzen zu sein.

Charlie's in a meeting

„Ich weiß auch nicht“, sagte Paul. Erst vor kurzem habe er mit jemand anderem dasselbe debattiert: Wie früher immer irgendwer irgendwo irgendwas zu kiffen gehabt hätte, und wie sich das still und leise einfach aufgehört habe.

Pete Doherty mit T-Shirt Drug Free

Gio Goi

Remember this one?

Mittlerweile, und das war in den 1990ern oder den frühen Nullerjahren vollkommen anders, gibt es in der Londoner Indie-Szene schlicht keinen Kiffer-Konsens mehr. Sollte da jemand, wie in anderen europäischen Städten üblich, spontan was anbauen, wäre das beinahe schon ein kurioser Fauxpas, ganz zu schweigen vom sowieso peinlichen Koksen, das früher ein weitverbreitetes Backstage-Phänomen war und jetzt nur mehr in der Hedge-Fonds-Szene soziale Akzeptanz findet. Genauso wie der in MusikerInnenkreisen seither merklich abgeflaute Crack-Hype Anfang des vergangenen Jahrzehnts.

Gewiss, ich habe einen eingeschränkten Blickwinkel. Wäre ich ein Club-DJ, der es bis in die späten Morgenstunden kicken lässt, dann hätte ich es wohl naturgemäß mit „gedopeten“ KollegInnen und ebenso synthetisch motiviertem Publikum zu tun.

Aber ich wage zu behaupten, dass der Status des Club-DJs als bestimmende Kraft (auch Nu-Rave ist schon sehr lange her) in Großbritannien im Verlauf des letzten Jahrzehnts in eine gebrauchsmusikalische Nische jenseits der einander gegenseitig beeinflussenden Ausdifferenzierungsspielchen der Popkultur hineingeschrumpft ist. (Falls es diese Spielchen überhaupt noch geben sollte, aber das ist wieder ein anderes Thema).

Vielleicht rührt die von mir beobachtete Ernüchterung ja auch von den Veränderungen her, die das Musik„geschäft“ im Zeitraum der beschriebenen Veränderung durchgemacht hat.

Kein Dope mehr in der Jiffy Bag

Zunächst einmal gibt es die Plattenlabels, in deren Büros von der Tischplatte weggekokst wurde, großteils nicht mehr. Oder wenn dann nur mehr als Schreibtisch in einem Großraumbüro, wo eine überarbeitete Person die Arbeit von vier seither gefeuerten Dampfplauderern macht. Niemand hat mehr das Budget für Botendienste, die Dope in Jiffy-Bags durch die Stadt spazieren führen, oder die Muße, den halben Tag „in a meeting“ zu verbringen.

Des weiteren haben jene Bands, die heutzutage erstaunlich nüchtern durch die Gegend touren, im Gegensatz zu Bands von vergleichbarem Status der Vergangenheit nicht nur keine Roadies, sondern oft nicht einmal mehr die Minimalbesetzung des Bus fahrenden Tourmananger/Soundmenschen mit dabei.

Erst neulich erzählte mir Van Pierszalowski von WATERS über seine Begegnung mit Neil Young, und wie jener sich - einen Joint in der Hand - kaum erholen konnte vor lauter Lachen über den Umstand, dass Van den Van fährt. Haschisch macht bekanntlich vieles lustig, das nicht lustig ist (was selbst große Mysterien der Popgeschichte wie den „Hat Song“ von Kevin Ayers erklärt). Aber es ist auch einsichtig, dass MusikerInnen, die sich selber fahren, Instrumente schleppen und Bühnen auf- und abbauen, schon aus praktischen Gründen nicht narkotisiert auf Tour gehen bzw. lebendig wieder nach Hause kommen wollen.

Die gefürchtete, nur mittels Selbstbedumpfung erträgliche Langeweile im Nightliner ist heute ein selten gewordenes Privileg, desgleichen das wochenlange Herumsitzen in Studios. Wo die Leute früher in der weichen Couch hinter dem Rücken des übers Mischpult gebeugten Engineers versumpert sind, haben sie nun das surrende Fixerbesteck ihrer Online-Sucht auf dem Schoß und gehen der Betreuung sozialer Netzwerke nach.

Wer gerade von der Tour heimkommt, muss morgen schon wieder zur Temp-Existenz zurückkehren und im Topshop Ausbeutungsindustriefummel verkaufen. Während also früher das Personal der Cafés, Bars und Shops von London, New York und L.A. aus gescheiterten Pop- und Rockstars bestand, besteht es jetzt aus tatsächlichen, aber viel kleineren Pop- und Rockstars ohne Geld. Und je länger ich mich mit solchen praktischen Banalitäten des Pop- und Drogenalltags befasse, desto offensichtlicher wird, wie nahe wir damit bereits am Kern der Sache schürfen.

Billie Holiday

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"cool"

Aber gehen wir's erst einmal von vorne an: Die Geschichte vom Einfluss diverser Drogen auf den Inspirationshaushalt der MusikerInnen ist oft erzählt, und ihr Beginn lässt sich bis weit vor das Aufkommen des Wortes Pop zurückverfolgen - siehe die Jazz-Ära und den Heroinkonsum von Billie Holiday, Charlie Parker, John Coltrane und Konsorten zwecks Ertragen der ständigen Erniedrigung durch die rassistische Umgebung in den Nachtclubs der Ära bzw. das mit den negativen Auswirkungen der Droge auf die empathischen Fähigkeiten zusammenhängende Auftauchen des Begriffs „cool“ als Ideal.

Alle seither gekommenen und gegangenen popmusikalischen Strömungen lassen sich mit den dazu passenden Drogen in Verbindung bringen. Wir kennen die alte Leier ...

Die chemische Geschichte der Popmusik:

Früher Rock'n'Roll, Cola trinken und Amphetamine mampfen, damit man's im Buick mit Kontrabass und Gitarre auf dem Rücksitz bis zum nächsten Gig 500 Meilen die Straße lang schafft; Beatniks pofeln derweilen Haschisch zum Jazz; Mods fressen Speed zum Durchtanzen, ihre Bands machen aus amerikanischem Rhythm & Blues ein hektisches Holpern, das jugendliche Aggression kanalisiert; Bob Dylan reicht den Beatles ihren ersten Joint und blows their minds.

Bob Dylan und rauchender John Lennon

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"So that thing in 'I Want to Hold Your Hand', John, you know, 'I get high!' and all that, I dig that ..." "Wouldn't know what you’re talking about, Bobby" ... Genau so war's.

In Jamaika bremst das Gras den Ska auf Reggae-Tempo ein, die wohlhabendere britische Mittelklassejugend fährt indessen in die alten Kolonien, kommt mit dem schwarzen Afghanen und dem braunen Marokkaner im Gepäck wieder heim, gründet Bands und vertieft sich in aromatisch befeuerte Jam Sessions, derentweilen Ken Kesey und seine Acid Tests in den USA das von der Pharmaindustrie entwickelte LSD in Umlauf bringen. Trippende Hippies schwurbeln Surreales und wagen musikalische Abenteuer, aber die Phase der Bewusstseinserweiterung dauert eigentlich bloß ein bis zwei Jahre, genauer gesagt 1966 bis 67, als sogar Biertrinker wie Status Quo schon gelernt haben, die schnell erstarrten psychedelischen Klischees nachzuahmen. Pictures of matchstick men are you!

Es beginnt die Ära des Heroin, aus buntem Überschwang werden Blues-Rock und erdige Brauntöne, gefakete Authentizität ersetzt Vorstellungskraft, die Rock-Aristokratie hat plötzlich zu viel Geld und Angst vor der Steuer und kokst sich in einen Strudel der Hybris hinein, verfeinert das Verbraten der Dukaten in Opiaten mit neuen Lebensinhalten wie dem Anfertigen von Speedballs und Freebasing bzw. entschleunigt zwischendurch mit Quaaludes und Mandrax das Hirn bis hin zum intellektuellen Stillstand, aus dem erst Punk – unter Einfluss von billigem Speed, Crystal Meth und Klebstoff – die Rockmusik herausreißt, ehe auch da das Heroin seine Spur der Verwüstung durch die Szene zieht; währenddessen auf dem Parallelplanet der afroamerikanischen und der schwulen Disco-Kulturen MDMA (Ecstasy) seine euphorisierende Wirkung zeigt, die Ende der Achtziger im Rave-Boom gipfeln wird.

Lennon schnieft an Cola-Flasche

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Snorting Coke, lustig

Und immer wieder biegt, derweil sich die Hip- und Triphopper der Neunziger in Richtung lähmender Lethargie und Paranoia verkiffen, die jeweils nächste Generation Gitarrenbands (zumeist via einer Phase des Marschierpulvergebrauchs, schließlich will die Welt umfahren werden) ab in die Sackgasse Heroin – seien es die Grunger gegen Mitte der Neunziger, ja sogar das brown of Camden Town der Britpopper ein, zwei Jahre danach, oder zur Jahrtausendwende die Crack-Schädel der Sorte Pete Doherty/Adam Green bzw. in späterer Folge Amy Winehouse bis hin zur – siehe oben – aus meiner subjektiven Wahrnehmung ziemlich nüchternen Gegenwart.

Vintage wasted

Natürlich macht die Vintage-Ästhetik als paradoxes Anti-Charakteristikum unserer Gegenwart auch vor dem Verhältnis aus Pop und Drogen nicht halt, siehe die hunderten „Crystal“-Bandnamen, hinter denen sich in Wahrheit stets harmlose Hipster statt zahnlosen, an ihren Schienbeinen kratzenden Meth-Heads verbergen. Aber klingt halt gefährlich. (Ich muss gestehen, der middle-aged Papa in mir, dem das zu blöd vorkommt, um wahr zu sein, hegt die Befürchtung, da was falsch verstanden zu haben. Aber wenn dem so wäre, dann erlange ich auf diesem Weg zumindest Aufklärung ...).

Sweater I Love Crystal Meth

flippinsweatgear.com

Auch lustig

Die daraus folgende Frage dazu ist wohl, ob von der Drogenmusik dekadenterer Zeiten derivierte Sounds im Zeitalter des hyperbeschäftigten Musikprekariats mangels Berauschung eine autosuggestive Täuschung und damit eine leere Geste darstellen; sozusagen das musikalische Äquivalent der Leute, die wild kichern, nachdem sie sich in Glastonbury ein auf dem Weg zum Klo teuer erkauftes Stückchen Schuhsohle in die Pfeife gestopft haben: Stoner Rock gespielt von Menschen, die nur wochenends oder im Urlaub stoned sind, wenn überhaupt. Psychedelik als gesittetes Feierabendphänomen.

Ich seh‘ das ja nicht so. Musik bleibt die beste aller Drogen. Nein, wirklich.

Einerseits gibt zwar schon der Titelsong dieses Texts ein gutes Beispiel dafür, was dem Pop-Kanon ohne Drogeneinfluss alles abgehen würde.
Andererseits kommt, wer sich die Geschichte der Popmusik noch einmal genauer ansieht, nicht an der Erkenntnis vorbei, wie viel mehr gewisse Drogen zerstört als ermöglicht oder inspiriert haben.
Um wie viel weiter wir schon sein könnten, wenn die Leute sich nicht am Höhepunkt ihres Schaffens so konsequent die kreativen Köpfe weggeblasen hätten.

Keith Richards, augenscheinlich benebelt

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Zeitverschwendung!

Niemand kann Keith Richards' Autobiographie lesen, ohne spätestens bei der x-ten Begegnung mit seinem Drogenspezi Freddie Sessler laut „Zeitverschwendung!“ auszurufen. Dazu braucht man nicht zur puritanischen Straight-Edge-Fraktion zu gehören, ja nicht einmal die wohlbekannte Liste der Todesfälle herunterzubeten.

In hunderten Interviews hab ich dieselbe Geschichte zu oft gehört, um sie dem Mythos zuliebe zu ignorieren. Neulich erst von Brian Wilson, der seine eigene Vergangenheit in gute Erinnerungen ans Musikmachen und schlechte an „zu viel Drogen“ teilt. Oder von Bobby Gillespie, der auf die Frage, warum Primal Scream nach „Screamadelica“ so einen kreativen Einbruch erlitten, mit dem Satz „Heroin destroyed my band“ antwortete. Oder von Überlebenden wie Nick Cave oder Marianne Faithfull, die es zurecht nicht lustig, sondern eher niederträchtig finden, wenn ihre „Fans“ behaupten, sie hätten in ihren jeweils kaputten Phasen die größere Kunst geschaffen.

In der Regel ist das genaue Gegenteil der Fall. Vielleicht rührt die verkehrte Wahrnehmung der Öffentlichkeit ja daher, dass sie die vermeintlich drogeninspirierten Songs logischerweise immer erst hört, wenn sie bereits geschrieben und aufgenommen sind, also lange bevor der/die sie vortragende KünstlerIn jener Öffentlichkeit begegnet und sich verschreckt in den Nebel der Selbstnarkose flüchtet.