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Roland Gratzer

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5. 10. 2011 - 15:29

Die Vernerdung des Alltags

Der "Spiegel" Online Journalist Christian Stöcker spaziert in seinem Buch "Nerd Attack" auf einem logischen Thread zwischen C64 und Anonymous.

Nerd Attack Buchcover

Spiegel Buchverlag

Nerd Attack von Christian Stöcker ist im Spiegel Buchverlag erschienen. Massenweise Artikel zum Themenkomplex gibt es hier.

Am 6. 10. ab 18.30 Uhr nimmt Stöcker an einer Podiumsdiskussion zum Thema "Das Ende des Privaten" im Rahmen der Veranstaltungsreihe "Quadriga" im Palais Epstein in Wien teil. Eintritt frei

Die italienische Wikipedia-Gemeinschaft hat aus Protest gegen ein von der Berlusconi-Regierung geplantes Gesetz die Website offline genommen. Die serbische Depandance macht aus Solidarität mit, die anderen Sprach-Abteilungen überlegen noch. Vielen MedienarbeiterInnen und Studierenden dürfte eine mühsamere Recherchearbeit als gewohnt bevor stehen.

Diese Meldung könnte morgen oder in ein paar Stunden entweder völlig uninteressant werden oder sich zu einem Flächenbrand mit west-weltlicher Solidarität ausbreiten. Zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung ist sie aufgrund der unaufhaltbaren Dynamik solcher Ereignisse schon wieder irgendwie veraltet.

Genauso verhält es sich mit Büchern über Dinge wie Netzkultur, Wikileaks, Anonymous oder Social Media Plattformen, die in letzter Zeit wie Super Mario-Schwammerl aus dem Boden schießen (kann eine nerdige Referenz ein furchtbar abgedroschenes Sprachbild auffrischen, ich zweifle noch). Der Status Quo, den diese Werke beschreiben, existiert einen Tag später vielleicht gar nicht mehr. Aber es gibt auch Ausnahmen. Nämlich solche, die sich auf die Geschichte all dieser heutzutage selbstverständlichen Bewegungen und Ereignisse konzentrieren.

Das beste dieser Art heißt "Nerd Attack!" und stammt vom Spiegel Online Redakteur Christian Stöcker.

Anonymous SPÖ Website

screenshot

Die Herrschaften von Anonymous mögen nicht nur Ponies und die Krankendaten von Hansi Hinterseer. Sie waren auch die ersten, die über die Proteste in Tunesien berichtet haben.

Auf Twitter habe ich den Autor gebeten, das Buch in 140 zusammen zu fassen. Seine Antwort:

"Nerds haben die Welt längst unterwandert, sie haben vor nichts Respekt (außer William Gibson), wer sie verstehen will, lese dies."

Der historische Bogen ist vor allem eine Geschichte der eigenen Jugend. Sie beginnt mit dem ersten C64, den großartigen Spielen dieser Zeit, den ahnungslosen Eltern und verschwimmenden Grenzen von kindlicher Naivität und an sich krimineller Tätigkeit. Weiter geht es mit ersten Chat-Erfahrungen bis hin zum alltäglichen Berufsleben, das aus zwei Monitoren voller Informationsquellen und/oder Ablenkungsmöglichkeiten besteht. Dazwischen erklärt Stöcker, wie gewisse Hacker-Ethiken aus den 80ern auch heute noch Bestand haben und warum die großen Konzerne außer falschen Entscheidungen nicht viel zusammenbringen.

Eine der zahlreichen Essenzen, die sich über das ganze Buch verteilen ist der Aufstieg der ehemals belächelten Jugendkultur "Nerd" zu einer mitten in der Gesellschaft verorteten Realität. So gab es in den letzten Jahren kaum einen Hollywood-Blockbuster, der nicht auf Comichelden, Spielzeug oder Fantasy-Literatur Bezug nahm.

"Wer 1984 wusste, wer Sauron ist, war ein Eingeweihter. Wer es 2010 nicht weiß, ist ein Ahnungsloser."

Gleichzeitig mit dieser ständig fortschreitenden Vernerdung hat sich ein digitaler Graben zwischen den Generationen aufgetan. Die einen sind mit der Technologie aufgewachsen, den anderen wurde sie aufgezwungen. Dass es vor allem die ahnungslosen Leute sind, die rund um 2000 Milliarden in die Dotcom-Blase gepumpt haben und nach wie vor die Gesetze machen, ist leider die bittere Wahrheit.

Begonnen hat der Marsch durch die gesellschaftlichen Institutionen Anfang der 80er Jahre. Die Entwicklung lässt sich sogar an einem Produkt festmachen: Dem Commodore 64.

Commodore 64

Commodore

"Der erfolgreichste Computer aller Zeiten hat in den Köpfen von Kindern und Jugendlichen eine Veränderung eingeleitet, die bis heute nachwirkt: Unbegrenzte Machbarkeit, laxe Einstellung zum Urheberrecht und die Bereitschaft, sich technologischen Wandel zunutze zu machen."

Wie zwischen der einen oder anderen Zeile wohl durchscheint, finde ich das Buch sehr super. Einziger fundamentaler Kritikpunkt: Jason Scott ist wirklich so viel mehr als nur ein "Hobby-Computerhistoriker".

Es entstand eine Gruppe von jungen Menschen, die ohne kriminelles Bewusstsein Spiele und Programme kopierte und in vielen Fällen auch verbesserte. Die damaligen Ur-Hacker wollten ihr Wissen verbreiten und eventuell auch ein bisschen symbolisches Kapital abstauben. Alle? Nein, ein Proto-Nerd namens Bill Gates schrieb schon 1976 in einem Brief an eine Computer-Zeitschrift, dass kostenlose Kopien in naher Zukunft daran schuld sein werden, dass keine gute Software mehr entwickelt wird. Definitv ein Blödsinn.

Versager: Industrie und Staat

Die Software- und vor allem Musikindustrie kommt in "Nerd Attack!" gar nicht gut weg. Stöcker weidet sich in der ahnungslosen Nicht-Reaktion der großen Labels, als mp3 und vor allem napster den Musikmarkt bedrohten. Er erzählt von Versuchen wie dem von Sony, einen Wurm in den Rechnern der User zu infiltrieren, der sie überwachen sollte und damit ein Tor für Angriffe von außen öffnete. Gleichzeitig warnt er davor, dass die angeschlagenen Riesen noch einen Trumpf in der Tasche haben: nämlich die Endgeräte. Nicht wir bestimmen, was unser Smartphone kann, sondern die Hersteller.

Als deutscher IT-Journalist grämt sich Stöcker über die schleppende Entwicklung in seinem Heimatland. War die bundesdeutsche Hacker- und Crackerszene in den 80ern noch genauso relevant wie andere Länder, setzte Anfang der 90er Jahre ein Rückgang ein. Schuld daran ist unter anderem der sogenannte KGB-Hack. Deutsche Hacker hatten gestohlene Daten an den sowjetischen Geheimdienst verkauft. Viel brisantes war nicht dabei. Manchmal haben sie einfach in westdeutschen Geschäften Programme gekauft und die dann ostdeutschen Agenten um viel Geld wieder abgekauft. Aber der öffentliche Aufschrei war groß. Der Chaos Computer Club, schon damals Deutschland wichtigste Lobbygruppe für digitale Rechte, war für Jahre diskreditiert.

Sascha Lobo

Willkommen Österreich

Stöcker stellt sehr treffend fest: Für viele, die nicht mit Computern aufgewachsen sind, schaut das Internet aus wie Sascha Lobo.

Hippie-Nerds

Doch auch andere haben Schuld am Abstand zu den USA. Während in den Staaten schon die Hippies damit begannen, elektronische Basteleien einfach lässig zu finden und mit Technologie spielten, herrschte in der europäischen Linken eher die Angst. Die Angst vor den Maschinen, die Angst vor der elektronischen Kontrolle. In den USA hat diese Mischung aus Hippiegeist, Risikofreude und Spaß am Gerät zum Boom des Silicon Valley geführt. In Deutschland musste ein Grünpolitiker in den 80ern seinen PC wieder aus dem Büro entfernen, weil seine Parteikollegen "arbeitsplatzfeindliche" Konsequenzen befürchteten. Dass das FBI damals bei Hacker-Hausdurchsuchungen auch Computermäuse mitnahm, spricht für die totale Ahnungslosigkeit der Exekutive, die - mit wenigen Ausnahmen - auch heute noch präsent ist.

Mit Fortdauer des Buches nehmen Stöckers persönliche Erfahrungen anscheinend ab und das Buch wird immer mehr zum Pamphlet. Aber zu einem unterhaltsamen. Der Wissensgrad der Leserschaft zur Thematik ist eigentlich unwichtig. Auskenner finden sich wieder, ahnungslose lernen viel. Schönste twitter-konforme Anmerkung: Für die nicht-native Öffentlichkeit sieht das Internet immer noch so aus wie Sascha Lobo.

Auf gendergerechte Sprache verzichtet Stöcker. Das ist allerdings gar nicht unpassend. Denn bis auf wenige Ausnahmen sind fast alle Protagonisten der Netzkultur-Geschichte Männer. (oder eher: Buben.) Dafür, dass im ganzen Buch kein einziges Mal dieses furchtbare Andy Warhol-Zitat kommt, möchte ich an dieser Stelle noch einmal ein herzliches "Danke schön" aussprechen.