Erstellt am: 5. 10. 2011 - 12:53 Uhr
Slumdog Millionaire
Ich liebe diese Zeit des Jahres. Die Tage sind noch warm, die Nächte kühl und die Kronen der Bäume werden immer bunter. Letzte Möglichkeit für lange Spaziergänge. „Altweibersommer“ sagt man auf Deutsch. Ich weiß nicht, woher der Ausdruck stammt. Sind die „Altweiber“ im deutschsprachigen Raum das Synonym für einen launischen Charakter? Oder haben im September alle Nordic Walking-Vereine jeweils ihre letzte Sitzungen vor der Winterpause, was die Fortbewegung von allen anderen in den deutschen und österreichischen Grünflächen erschwert? Ich werde es wahrscheinlich nie erfahren.

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In Bulgarien werden die letzten warmen Tagen des Jahres „Zigeunersommer“ genannt. Nicht mehr Sommer, aber noch nicht ganz Herbst - gewiss eine Zigeunerangelegenheit, meint der Volksmund. Um durch die kühlen Nächte des „Zigeunersommers“ zu kommen verwendet man in Bulgarien die „Zigeunerliebe“. Nein, das ist nicht die berühmte Operette von Franz Lehar. Unter diesen Namen kennt man bei uns den einfachsten Holzofen, der in den Romavierteln der Städte ziemlich verbreitet ist.
Wie ich euch schon erzählt habe, wurde dieser „Altweiber“- oder eben der „Zigeunersommer“ in Bulgarien sehr heiß. Das Land wurde letzte Woche von ethnischen Konflikten ergriffen. Das Gleiche passiert momentan in Tschechien und in Ungarn. Überall, wo Roma mit anderen Ethnien zusammenleben, kann es jedes Moment zu Spannungen kommen. Die Menschen in Europa haben keine Idee, wie sie mit diesem Problem klarkommen sollen.
Meiner Meinung nach liegt dieses Problem hauptsächlich nicht bei den Roma selbst, sondern in den „dominierenden“ Ethnien in Osteuropa. In Bulgarien haben die Mafiosi schnell gelernt, die Armut der Roma in ihren dreckigen Spielchen mit den öffentlichen Behörden zu verwenden.
Schischo aus der nordbulgarischen Stadt Lom ist 41, Rom, Analphabet, arbeitslos und krank. Nicht mal einen „Zigeunerliebe“-Ofen kann er sich leisten. Der Winter wird in seinem fast dachlosen Haus zur Hölle. Schischo ist jedoch stolzer Besitzer von einem der größten Unternehmen in Nordbulgarien. Und als solcher schuldet er dem Staat mehr als 20 Millionen Leva (10 Millionen Euro).
Schischos Firma hat mal früher einem Verwandten des Bürgermeisters in Vidin gehört – einer Stadt an der Donau in der ärmsten Region Bulgariens. Ein anderer Verwandter des Firmenbesitzers sitzt im Parlament in Sofia. Es ist gut, so einflussreiche Verwandte zu haben. So bekommt man leicht öffentliche Aufträge. So wie zum Beispiel den Auftrag, das alte Wasserversorgungsystem in Vidin auszuwechseln.
Die Ausführung dieser Montage wurde zu einer Katastrophe. Statt die neuen Wasserröhren zwei Meter unter die Erde zu legen, machte man sich nicht so große Mühe und grub nur 70 Zentimeter tief. Als man dann die Straßen wieder asphaltieren sollte, wurden die Röhren von den Asphaltierungsmaschinen beschädigt. Der Staat klagt auf Entschädigung, aber vergebens – die Firma des Bürgermeisterverwandten gehört jetzt den mittellosen Rom Schischo, der gegen 50 Euro etwas vor einem Notar unterschrieben hat. „Wenn der Hunger an die Tür klopft, unterschreibe ich alles“, sagt der Roma aus Lom. Das Geld fürs neue Wasseversorgungssystem ist spurlos verschwunden.
Schischo ist nicht der einzige Rom in Bulgarien, der eine hochverschuldete Firma besitzt. Ein anderer Rom in Lom hat ganze 49 Firmen auf seinen Namen angemeldet! Er schuldet dem Staat über 60 Millionen Leva (30 Millionen Euro)! Dieser „professionelle“ Firmenbesitzer ist auch arbeits- und mittellos. Rekordeure sind zwei Brüder aus einem Dorf in der Nähe von Varna – sie haben mehr als 170 Firmen und ihre Schulden betragen mehr als 40 Millionen Euro.
Ihre hochverschuldeten Unternehmen an mittellose und analphabetische Roma zu „verkaufen“, hat sich als ein übliches Mittel von kriminellen Geschäftsleuten in ganz Bulgarien etabliert. Die „Verkäufe“ werden immer durch Vermittler getätigt. Verschuldete Firmen werden auch an Roma im benachbarten Rumänien weiterverkauft. So ist es noch schwieriger für den Staat gegen diese kriminellen Handlungen zu ermitteln. In diese „Geisterverkäufe“ wurde auch der Europaparlament-Abgeordnete Slavi Binev von den Ultranationalistische Partei „Attaka“ verwickelt. Gerüchten zufolge soll er auch zwei verschuldete Firmen an Roma in Sofia weitergeleitet haben.
In Bulgarien gibt es ein Sprichwort: „Der Verrückte ist nicht der, der den Börek isst, sondern der, der es serviert.“ Bevor man die Roma angreift, weil sie ungebildet sind, soll man sich fragen wer ein Interesse hat, dass sie ungebildet bleiben. Nämlich die, die sie ausnutzen, um ihre eigenen kriminelle Taten zu verstecken. Der Volksmund hat dafür noch eine Weisheit parat: „Für Groschen gibt es keine Vergebung, für Millionen gibt es kein Gesetz.“