Erstellt am: 3. 10. 2011 - 19:50 Uhr
Journal 2011. Eintrag 181.
2011 ist Journal-Jahr - wie schon 2003, 2005, 2007 und 2009. Das heißt: Ein täglicher Eintrag, der als Anregungs- und Denkfutter dienen soll, Fußball-Journal '11 inklusive.
Hier finden sich täglich Geschichten und/oder Analysen, die ich als passionierter Medien-Konsument selber gern gelesen/-sehen/-hört hätte, aber nirgendwo (oder nur unzureichend) finden konnte; und deshalb selber ausforschen und durchdenken muss.
Heute mit einer historischen Was-wäre-wenn-Überlegung anläßlich des Tags der deutschen Einheit.
Nicht sagen, dass uns das wurscht sein kann.
Die Befindlichkeit des nachbarlichen Sprach-Hegemonen, des ökonomischen aggressive Leaders, des Taktgebers der politischen Entscheidungen kann nicht egal sein.
Und die schlägt sich an diesem neuesten und athmosphärisch seltsamsten aller deutschen Feiertage deutlich nieder. Vor allem an diesem 21stenmal, wo das Krisengerede rundherum den eigentlichen Anlass so klar ins Eck drängt.
Außerdem: auch wir im kleinen Österreich waren knapp dran, historisch. Soooo knapp, ums Arschlecken, echt.
Denn das, was Deutschland da 1949 widerfuhr, die Teilung in zwei Staaten nämlich, das wäre in Österreich zeitgleich auch fast passiert. Die Vorraussetzungen waren identisch: vier aliierten Verwaltungszonen teilen das jeweilige Staatsgebiet auf, die im Osten liegende Hauptstadt, ein Wasserkopf sondergleichen, unterliegt denselben Mechanismen.
Drr Plan für ein in Ost und West geteiltes Österreich...
Wäre die sowjetische Politik anno 49 ein wenig hardlinermäßiger gewesen, die US-Politik derselben Zeit noch ein wenig bockiger, hätte es noch eines deutlicheren Nachdrucks gebraucht um die Ernsthaftigkeit der deutschen Lage zu betonen, dann hätten sich die heimischen Checker ihre clever aufgebauten Beziehungen zu den Russen in die Haare schmieren können, dann wäre Österreich genauso geteilt worden.
Der Osten, die VDRÖ, hätte das Burgenland, Niederösterreich und das Mühlviertel umfaßt, die sowjetische Besatzungszone.
Der Westen, die BRÖ, hätte aus Rest-Oberösterreich, Salzuburg, Tirol, Vorarlberg, Kärnten und der Steiermark bestanden.
Wien wäre zumindest jeseits des Donaukanals geteilt worden, wahrscheinlich hätte die UdSSR versucht Favoriten und Wieden wegzutauschen (Simmering? Landstraße?), um den Alberner Hafen wäre gezankt worden - und die Innenstadt wäre wahrscheinlich zu einer Art neutralen Zone geworden. Schließlich hat Berlin kein so ein Zentrum aufzuweisen.
... der lag umsetzungsbereit in der Schublade
So hätten die Weltmächte das entschieden - die Pläne lagen schon in der Schublade und wurden (mit viel historischem Massel) nicht verwirklicht. Österreich diente Amerikanern und Sowjets vielmehr als Verhandlungs-Zone, als Gutwetter-Areal.
Aber: was-wäre-wenn?
Wie hätte sich der Osten entwickelt, wie der Westen?
Wären das Burgenland zu einem Verteilerkreis für das Zusammenlaufen von ungarischen, slowakischen und kroatischen Kulturströmen geworden?
Wie hätte sich der kleine Grenzverkehr auf Tschechen und Niederösterreicher ausgewirkt?
Hätten sich die mächtige NÖ-Bauern brav mit der Kolchosen-Struktur der Ostblock-Länder arrangiert? Wären Raab und Figl der Österreichischen Volksbauern Partei (ÖVP) vorgestanden? Oder hätte der Süden, das Industrieviertel die Vorherrschaft übernommen, als wichtiger Außenposten einer von den Sowjets neuaufgebauten Schwer-Industrie?
VDRÖ und BRÖ, geteiltes Wien, Tauerntrasse
Wie hätte sich das geopolitisch zerrissene, durch die Alpen hoffnungslos getrennte West-Österreich, die BRÖ, geschlagen? Mit einem Durchschlag durch die Tauern um OÖ/Salzburg und Kärnten/Steiermark zu verbinden?
Wer hätte sich hier durchgesetzt, der machtvolle Verbund aus erzkatholischen Großbauern und Großbürgern oder die Industriearbeiterschaft in Linz/Umgebung und entlang der Mur/Mürz-Furche? Wer hätte den Führungsanspruch gestellt - die Tiroler wie Gruber und Hurdes oder die in Wien verbliebenen Brückenköpfe?
Was wäre überhaupt mit dem geteilten Wien geschehen - eine Mauer wäre wegen Donau und Kanal nicht nötig gewesen (außer vielleicht zwischen Simmering und Favoriten), aber wie lebensfähig wäre das von sowjetischem Gebiet eingeschlossene West-Wien denn gewesen? Hätte es im Krisenfall auch Luftbrücken gebraucht? Hätten auf der Donau U-Boote oder zumindest Kanonenboote patrouilliert?
Schlimmer als die CSU? Oder ein CSU-Verbesserer?
Wie hätte sich die ideologischen Landschaft entwickelt? Wie hätte sich die starke Sozialdemokratie im Westen gestellt? An die Seite der Brandt-SPD? Wären die West-Konservativen ein politisches Abbild der bayerischen CSU geworden, eine deutlich reaktionärere ländlich-katholische Variante? Hätte das vielleicht die CSU zu einer offeneren Bewegung gemacht?
Wäre Arnold Schwarzenegger, der sich ja in der britisch besetzten Zone von den Sowjets untersdrückt fühlte (schrecklich, diese Phantomschmerzen) jemals in die USA ausgewandert?
Wäre Helmut Qualtinger wegen seiner beinharten Parodien russischer Besatzer erschossen worden?
Welche Musik hätte Falco gemacht? Welche Art Kultur hätte überhaupt vorgeherrscht? Wie hätten sich die Besatzer auf die Ausbeutung der Tourismus-Metropole Wien geeinigt? Wo wäre der Wiener Checkpoint Charlie gewesen?
Widerstand und Tafelspitz-Kommunismus
Hätte sich ein Untergrund, ein Widerstand gebildet?
Wären die Ostösterreicher zu Aufständen wie die DDR-Bürger (53), die Ungarn (56), die Tschechen und Slowaken (68) fähig gewesen?
Wäre, weil ja nicht die Ungarn der westlichste Outpost gewesen wären, nicht der Gulasch-Kommunismus die Bezeichnung für eine aufgeweichte Linie gewesen, sondern der Tafelspitz-Kommunismus?
Wäre die Annäherung der beiden Blöcke nicht in Wien, der ewigen Kongress-Stadt über die Bühne gegangen? Und hätte die Wiener Diplomatie nicht dazu geführt, dass ein Reformer im Umfeld von Andropov schon Anfang der 80er das eingeleitet hätte, was wir historisch als Perestroika kennen?
Eine Sicherheit nehme ich aus diesem historischen Denkspiel: wenn Österreich Teil der aliierten Spaltung Europa gewesen wäre, wäre der Tag der deutschen Einheit nicht heute; und es hätte wohl auch nicht bis 1989 gedauert. Und noch eines nehme ich mit: eine gewisse Dankbarkeit, dass dieser historische Kelch an uns vorbeigegangen ist.