Erstellt am: 30. 9. 2011 - 10:42 Uhr
Humanitäre Fußtritte
Im Ägypten nach Mubarak wird fleißig daran gearbeitet, bekannte Bräuche fortzuführen: Menschenrechtsverletzungen, Folter und Militärgerichte. War eine der Hauptforderungen der Revolutionsbewegung des 25. Januar noch die Aufhebung der Notstandsgesetze, so sehen sich die Ägypter heute mit der Ausweitung und Verschärfung des Erbes von Hosni Mubarak konfrontiert. Gerade das Wissen um die abstoßenden und unnachgiebigen Folterpraktiken hat die Hoffnung auf eine Zeit ohne Gewalt und Unterdrückung nach der Revolution aufkommen lassen.
Sammy Gamal Khamis
We are sorry our dear Revolution
Es tut uns leid, liebe Revolution. Diesen Satz bloggen immer mehr junge Ägypter. Wo bis vor einem Jahr die Handschrift Mubaraks in den Folterspuren vieler Zivilisten zu erkennen war, sieht man heute das Militär, jene Institution also, die im Januar als Befreier gefeiert wurde, als Erben Mubaraks Menschen und Menschenrsechte mit Füßen treten. Als vor gut einem Jahr Khaled Said auf offener Straße in Alexandria tot geprügelt wurde, spiegelte sich darin nur ein Gesicht der Folterpraktiken der damaligen Sicherheitsorgane. Zwischen physischer und psychischer Gewalt war die Intention das Brechen der Würde des Verhafteten. Sodomie, Waterboarding, sexueller Missbrauch von Männern vor ihren Frauen oder Elektroschocks waren Verbrechen, die unter Mubarak über 30 Jahre begangen worden sind. Aber Mubarak ist Geschichte. Folter auch? Keineswegs. Wie Human Rights Watch herausfand, setzen sich Militär wie Polizei weiterhin über Menschenrechte hinweg, indem sie zum Beispiel Frauen zu Tests zwingen, die ihre Jungfräulichkeit beweisen sollen. Jeder einzelne Fall von Folter ist ein Verbrechen, auch wenn Anzahl und Intensität von Folter im Vergleich zum Ägypten unter Mubarak abnehmen, wie zumindest Human Rights Watch konstatieren.
Sammy Gamal Khamis
Notwendiges Notstandsgesetz?
Über dreißig Jahre war es den Sicherheitskräften möglich Zivilisten in bestimmten Teilen des Landes (dem dichtbesiedelten Nildelta z.B.) ohne Anklage festzunehmen und vor ein Militärgericht zu stellen, das der Person grundlegende Rechte, wie das auf einen Anwalt oder zivile Richter, vorenthielt. Dies war durch das Notstandsgesetz legitimiert. Mit der Begründung, man wolle die nationale Sicherheit erhalten, wurden in 30 Jahren 2000 Menschen von Militärgerichten verurteilt (unter anderem wegen den Anschlägen auf Touristen 1993 und 1997).
Die Regierung fand immer wieder Vorwände, um die Beibehaltung und Ausweitung des Notstandes zu rechtfertigen. Nachdem das Security Council of the Armed Forces (SCAF) auf sehr streitbare Weise die Macht in Ägypten übernommen hat, führte es die Notstandsgesetze nach kurzer Abschaffung (Mitte Februar bis Mitte März) mit dem Referendum über die Verfassungsänderungen wieder ein. Seither wurden in Ägypten 12000 (!) Zivilisten vor Militärgerichten angeklagt. Mit einer Verurteilungsrate von vorzeigbaren 93% wurden Menschen im Schnellverfahren abgeurteilt. Die Tatsache, dass in 30 Jahren 2000 Menschen verurteilt wurden, in den vergangenen sechs Monaten fast 12000, wirft die Frage nach der Legitimation dieser Verfahren auf.
Ahram_Online
Genau diese Frage stellten die Demonstranten am 9. September auf dem Tahrirplatz, ohne Antworten, Argumente oder eine Entschuldigung zu bekommen. Auch wenn die Regierung die anhaltenden Plünderungen (als Folge der Öffnung der Gefängnisse im Januar und Februar), den Waffenschmuggel aus Libyen und den Drogenhandel an der Nordküste als Gründe anführt, um ihr Vorgehen zu rechtfertigen, so sind Fälle wie die Verurteilung eines 16-jährigen Jungen bekannt, der für das Beschimpfen eines Armeeoffiziers zu sieben Jahren Haft verurteilt wurde. Kritische Autoren und Blogger, wenn sie verurteilt wurden, werden bis zu 400 Kilometer von der eigenen Familie entfernt in Gefängnisse gebracht.
Veränderte Verfassung, unverändertes Missachten
Sammy Gamal Khamis
Die geänderte Verfassung sieht dabei einen festen Rahmen im Umgang mit dem Notstand vor: Nach sechs Monaten des Notstandes läuft dieser aus und kann nur durch ein Referendum verlängert werden. Am 19. September waren diese sechs Monate vorbei, und was passiert? Das SCAF verlängert und verschärft dieses Gesetz. So darf nun nicht mehr kritisch gegen die Machthaber (SCAF) geschrieben oder berichtet werden, sondern auch möglichen Demonstrationen wird durch eine allgemeine Formulierung die rechtliche Grundlage entzogen. So wird demonstrieren illegal, wenn es private oder staatliche Geschäfte schädigt oder die Wirtschaft schwächt. Nebenbei darf es den Verkehr nicht beeinträchtigen oder gegen das Interesse Ägyptens stehen. Allgemeiner auslegbar kann man ein Gesetz nicht formulieren. Wer sich kritisch gegen diese Gesetze und allgemein gegen die Regierung äußert, läuft Gefahr, ebenso vor einem Militärgericht angeklagt zu werden. Das hängt damit zusammen, dass Militärrecht dort gilt, wo die Armee das Land kontrolliert. Seit dem Ende Mubaraks ist das ganz Ägypten. Folglich gilt im ganzen Land Militärgerichtsbarkeit.
Ein alter Herrscher, viele alte Gesichter und eine altbekannte Sprache
Auffallend, beängstigend und leider allzu vertraut ist die Sprache, die die Militärführung gebraucht, um ihre Gesetze zu rechtfertigen. Mit den Themen Sicherheit, Stabilität und Ägyptens Interessen werden Sprache und Intention des politischen Handelns unter Mubarak übernommen. Was also bedeutet die neue Freiheit in Ägypten? Sie bedeutet über die Verbrechen der alten Regierung offen schreiben zu dürfen, das Unrecht, das begangen wurde, anzusprechen und zu verurteilen. Diese Freiheit bedeutet, sich mit der Vergangenheit auseinander zu setzen. Aber es stellt sich die Frage, ob nicht die Aufarbeitung des Vergangenen einen zu hohen Anteil in aktuellen Diskussionen einnimmt. Denn dadurch, dass sich die mediale Öffentlichkeit mit Geschichten aus den letzten 30 Jahren beschäftigt, läuft sie Gefahr, das aktuelle illegitime Handeln des Militärrates zu vernachlässigen.
Wie kam es, dass die 845 Demonstranten im Januar und Februar des Jahres gestorben sind, fragt man sich und fragt man die Angeklagten im Mubarak-Prozess. Viele wurden erschossen, weil sie Polizeireviere erstürmten und die Verteidigung strategischer Sicherheitseinrichtungen in Ägypten jede Form der Abwehr rechtfertigt. Auch das Erschießen von Menschen. Nach bekannten Mustern (siehe Hans Filbinger: Was damals rechtens war, kann heute kein Unrecht sein) wird sich so aus juristischer Verantwortung gewunden und die Anzahl der Toten relativiert. Mit dieser Sprache wird eine neue und negative Art der Diskussion über die Revolution geschaffen, in der staatliche Gewaltanwendung (gegen Unbewaffnete) legitim werden soll.
Was kostet ein Menschenleben?
Andreas von Chrzanowski aka Case / Mohamed Gaber aka Gue3bara
Das rigide Aburteilen von kritischen Journalisten, verzweifelten Dieben und organisierten Banden steht im scharfen Gegensatz zum Umgang mit den politisch Verantwortlichen für die Gewalt während der Proteste im Januar und den Menschrechtsverletzungen dieser Zeit.
Letzten Sonntag wurde das erste Urteil zu einem Todesfall vom 28. Januar (dem Tag des Zornes) gesprochen. Ein Polizeioffizier wurde zu fünf Jahren Haft und 10.000 ägyptischen Pfund (1.300 €) für das Erschießen einer Demonstrantin verurteilt. So viel kostet das Leben einer Frau, die forderte, was ihr zusteht: Würde, Freiheit, Gerechtigkeit. Selbst diese grundlegenden Dinge werden nach ihrem Tod mit Füßen getreten.
Es sind nicht wir, die wir uns bei der Revolution zu entschuldigen haben. Es sind die Menschen, die mit ihrem starrsinnigen Handeln aufrecht erhalten, was längst Vergangenheit sein sollte.