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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

26. 9. 2011 - 17:14

Journal 2011. Eintrag 176.

Der Umschnitt an der Türschwelle. Zu Michael Glawoggers großem Wurf "Whores' Glory".

2011 ist Journal-Jahr - wie schon 2003, 2005, 2007 und 2009. Das heißt: Ein täglicher Eintrag, der als Anregungs- und Denkfutter dienen soll, Fußball-Journal '11 inklusive.

Hier finden sich täglich Geschichten und/oder Analysen, die ich als passionierter Medien-Konsument selber gern gelesen/-sehen/-hört hätte, aber nirgendwo (oder nur unzureichend) finden konnte; und deshalb selber ausforschen und durchdenken muss.

Heute mit einem zweiten Blick auf Michael Glawoggers neuen Film Whores' Glory.

Glawogger in einem Interview mit der Zeit und in einem mit der Presse.

Vorab: Whores' Glory sollte man sich nicht nur ansehen, um damit angeben zu können, wenn der Film oscarnominert wird, nicht nur wegen seiner exquisiten optischen Qualitäten und nicht weil das Thema ein huhu-verruchtes ist. Whores' Glory zeigt (wie schon Workingman's Death), wie andere Mikrokosmen funktionieren, wie weit oder wie wenig weit das von den unsren entfernt ist; und das ist angesichts des Zusammenwachsens der Welt ein unendlich wertvoller Input.

Michael Glawogger hat sich nämlich vom üblichen Blickwinkel, der Prostitution außerhalb Europas ausschließlich unter dem Diktat des Sex-Tourismus wahrnimmt, gelöst.
An den Orten seiner Wahl (Bangkok/Thailand, Faridpur/Bangla Desh, Reynosa/Mexico) sind es die Menschen aus der jeweiligen Region, die im Geschäftsfeld Sexualität zusammenkommen.

In Thailand, wo Glawogger in einem Club (dem Fishtank) dreht, der die Huren und die Freier durch eine Glaswand trennt, ehe der Auswahl-Prozess beendet ist, legiminiert sich der Sex-Transfer durch eine Feierabend/Party/Entspannungs-Kultur. In Mexico, in der Drive-By-Zone, einer grindigen Version eines Freizeit-Parks, spielt schon ein fast amerikanischer Thrill-Faktor mit, um aus dem Kauf des schnellen Sex ein Abenteuer zu machen. Und in Bangla Desh, in einem matriarchalisch geführten puffähnlichem Gebäude-Komplex, dient die Prostitution der Balance einer rigid strukturierten Gesellschaft, schafft den vielleicht einzigen Freiraum.

Prostitution als Alltag, für beide Teilnehmer

Im Übrigen ist der Film (anders als in der von allen Kritikern gedankenlos gecopypasteten Vorgabe der Produktionsfirma) kein klassisches Triptychon, also die filmische Umsetzung eines dreigeteilten (Altar-)Gemäldes oder Reliefs, bei dem der zentrale Part die vordringliche Rolle spielt und auch noch durch eine Predella geerdet wird.

Die cinematographische Entsprechung des Triptychons wäre etwa der Napoleon-Film von Abel Gance, der tatsächlich mit drei zeitgleichen Bildebenen arbeitet.

Whores' Glory ist schlicht ein Dokumentarfilm mit drei Teilen, drei Kapiteln, that's it.

Trotz der unterschiedlichen kulturellen Voraussetzungen sind die Arbeitsbedingungen und die Geschichten hinter den Schicksalen durchaus ähnlich. Die exotischen Settings verschwinden nach ein paar Minuten und erreichen durch ihre zunehmende Vertrautheit ein allgemeingültiges Level.

Diese Vertrautheit hergestellt und sichtbar gemacht zu haben und die dadurch mögliche Menschendarstellung ist Glawoggers größter Verdienst. Da hat sich die Methodik seit Workingman's Death verbessert, verfeinert. Vielleicht auch deshalb, weil die Frauen, die ihre Geschichten erzählen, sie offener präsentieren als die oft noch auf ihr Sozialprestige bedachten Männer in Workingman's Death, denen man die kleinen Lügen allzu oft anmerkte.

Wobei die Grenzen der Wahrhaftigkeit bei Whores' Glory fließend sind. Denn natürlich hat Glawogger, wie er es im Interview mit Petra Erdmann offen anspricht, die Frauen für ihre Zeit bezahlt: Ich habe mir nach einer gewissen Zeit zur Prämisse gemacht, ihnen alles zu glauben. Anders geht es ohnehin nicht.
Die lange Verweildauer des Filmteams, die zu einer Annäherung an die Wahrheit geführt haben kann, spürt man in den allermeisten Einstellungen. Nur selten schaut ein Kunde, glotzt eine Nachbarin ein wenig pikiert in die Kamera - meistens wird sie nicht mehr wahrgenommen.

Sichtbar gemachte Vertrautheit vs Scripted Reality

Und einmal kann sich Glawogger dann nicht beherrschen und inszeniert ganz bewusst eine Szene, als wäre sie aus Desperate Housewives oder zumindest aus einer der peinlichen scripted reality-Shows der Privaten.
Ohne Not noch dazu.

Gegen Ende des letzten in Mexico spielenden Teils wird der Teil, den der Film zuvor immer ausgespart hatte (die Action im Bett) plötzlich thematisiert. In Thailand und Bangla Desh war an der Türschwelle immer Schluss gewesen - ohne dass der Zuschauer das Gefühl hatte, etwas Wesentliches zu verpassen; eher im Gegenteil.

In der "Zona" sehen wir dann eine der Santa Muerte anbetenden Prostituierten im kühlen Umgang mit einem Kunden, der nicht genug Geld für eine Voll-Behandlung aufbringt: ein wenig oral, ein paar Stellungen und fertig, ehe er gekommen ist. Die Kamera drängt sich nicht in die Geschlechtsteile, immerhin.

Trotzdem: ab dem Moment, wo wir die beiden gesehen haben, als sie eine Tür hinter sich geschlossen hatten, und sie dann im Umschnitt in der selben Szene innen übernehmen, ist klar, dass hier keine Dokumentation, sondern 100% Inszenierung im Gange ist.

Das Glawogger-Seidl-Dogma: nix ist echt, also eh wurscht

Klar, die Glawogger-Seidl-Schule des Doku-Dramas sagt in ihren ungeschriebenen Dogma-Grundsätzen, dass das wurscht zu sein hat, weil jede Dokumentation inszeniert. Klar, die Anwesenheit einer Kamera schafft automatisch ein anderes Klima, eine andere Tonalität, gibt andere Strukturen vor. Immer.
Und jeder Dokumentarist inszeniert. Die einen inszenieren die Umgebung, und sei es um besseres Licht zu kriegen, die anderen skripten gleich vollständig.

Glawogger kann sich in Whores' Glory recht lang dezent im Hintergrund halten und sich zumindest den offensichtlichen Eingriff verkneifen. Um dann final doch wieder umzufallen.

Das geht sich im Übrigen auch deshalb wieder aus, weil der Blick des Kino-Besuchers durch die Allgegenwart des Fakes, des Geskripteten, eh schon so schleißig geworden ist, dass der Umschnitt an der Türschwelle ohnehin kaum jemandem auffällt. Die Relativität des dokumentarischen Wertes hilft dabei, diese plumpe Inszenierung zu übersehen. Denn im Vergleich zum in seiner Offenheit süffisanten Betrug ist Whores' Glory immer noch so authentisch wie Sido.

Vielleicht schneidet Glawogger diese Passage ja auch noch raus, bevor er den Film für die großen Preise einreicht. Inhaltlich geht nichts verloren, im Gegenteil. Und es wäre, inmitten einer übergeskripteten und darob einheitsgebrauten Bilder-Welt, zumindest der Anschein des Dokumentarischen gewahrt.