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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

25. 9. 2011 - 23:11

Journal 2011. Eintrag 175.

Und noch mehr Fragen, die sich aus dem Piraten-Erfolg ergeben. Etwa: Killt der Tugend-Terror der Transparenz die Streitkultur?

2011 ist Journal-Jahr - wie schon 2003, 2005, 2007 und 2009. Das heißt: Ein täglicher Eintrag, der als Anregungs- und Denkfutter dienen soll, Fußball-Journal '11 inklusive.

Hier finden sich täglich Geschichten und/oder Analysen, die ich als passionierter Medien-Konsument selber gern gelesen/-sehen/-hört hätte, aber nirgendwo (oder nur unzureichend) finden konnte; und deshalb selber ausforschen und durchdenken muss.

Heute mit Überlegungen, die sich aus der vielfältigen und nicht aufhören wollenden Diskussion um den Polit-Einstieg der Piraten-Partei ergeben.

Siehe dazu auch: Die Journal-Einträge 172: Die Bedrohung durch die Piraten ist deren Forderung nach direkter und partizipativer Demokratie. und Eintrag 170: Der erste Enterhaken sitzt. Was können Piraten politisch.

Der Kommentar des Politblogs Sprengsatz ist einer von vielen, die das durchdenken, was nach dem 8,9%-Erfolg der Berliner Piratenpartei auch neu durchzudenken wäre. Autor Michael Spreng sieht die Macht der alten Medien über die bislang ausschließlich in den neuen Medien firmen Piraten herein- und sie daran strukturell zerbrechen.

Denn die wollen sich Profile und Personen herauspicken, an denen sich etwas aufhängen oder zeigen lässt (Latzhosen-Typen etwa); und sie saugen den aktuell noch lässigen Amateur-Status der (noch im politischen Lernen begriffenen) Piraten vampiresk aus - nur um ihn dann in sicher nur wenigen Monaten als letztklassig wieder zu verdammen.

Nun, das haben, im Kleinen, auch die österreichischen Medien versucht, im Fall der Audimax-Besetzungen. Es ist ihnen nicht gelungen da durchzubrechen. Man kann sich als politische Kraft, bei aller Naivität, also der Dynamiken der alten Medien erwehren.

Viel problematischer ist die andere kassandrische Warnung von Spreng: die der bewegungsinternen Zerreißprobe um die Transparenz. Denn die, die völlige Offenlegung aller Prozesse, ist die Nährlösung aller Piraten-Aktivisten und -Sympathisanten. Und da gibt es bereits erste Aufgeregtheiten um erste Veränderungen. Das mit dem "Liqiuid Feedback" klappt noch nicht so 100pro, es gab Alleingänge und Unabgesprochenes, pipapo.

Von Liquid Feedback und anderen Partizipations-Tools

Wie man derlei Probleme rund um die vielfach missbräuchlich angelegte Praxis der Basisdemokratie halbwegs handelt - das können die Grünen beantworten, die schlagen sich seit ihrem Bestehen mit genau diesen Problemen herum. Also auch hier: nichts Neues unter der Sonne; aber auch nichts Unlösbares.

Die wirklich interessante Frage ist aber eine prinzipiellere. Und sie steht (wegen der medialen Entwicklungen) tatsächlich genau jetzt zur Beantwortung an.

Inwieweit trägt die totale Transparenz (die über echtzeitige Kanäle alles rausbläst, was geredet und gedacht wird) die Möglichkeit des puren, knallbunten Brainstormings zu Grabe? Inwieweit killt sie die bedeutende Entscheidungssfindung mittels Streitkultur? Inwieweit frönt sie einem Tugend-Terror wie man ihn aus den Abschriften der Sitzungen des Wohlfahrts-Ausschusses unter Robespierre und Saint-Just kennt?

Natürlich gibt es, von wegen liquid feedback, im Web 2.0 erstklassige Tools, die genau das (wilde Ideenfindung, pralles Brainstormen) in allen erdenklichen Formen ermöglichen. Ihre Anwendung ist erprobt und - wieder bot da der Audimaxismus eine Experimentier-Plattform, deren jetzt schon historische Bedeutung man gar nicht hoch genug einschätzen kann - es funktioniert auch.

Transparenz als Bremse in der Entscheidungsfindung?

Die offene Diskussion über Leitlinien, Prinzipien und die Suche nach einem gemeinsamen Moral-Verständnis ist aber etwas, was jenseits solcher Ausprobier-Runden auch auf der nächsten Ebene dringend benötigt wird. Wenn nach den Ideenschleuderern dann nämlich die Verknüpfer und Planer drankommen, die aus vagen Vorstellungen konkretisierbare Politik formen sollen, ist es genauso notwendig, in aller manchmal auch derben und drallen Offenheit zu argumentieren.

Das ist ein Teil des Prozesses, der bei jeder Gruppe solange funktioniert, solange er sich nicht einer totalen Transparenz-Ideologie stellen muss. Damit auch eigentlich Unsagbares gesagt werden kann, ohne Außenstehende zum Aaahen und Ooohen zu bringen.

Denn hier, beim Abwägen der Ideen auf Tragfähigkeit, beim Sortieren der Zutaten zur Leitlinien-Suppe, kann sich die totale Transparenz zum totalen Druck und damit zum totalen Terror auswachsen. Ich will gar nicht mit dem Bild der zuvielen Köche antanzen - wenn die Suppe, um in der Metapher zu bleiben, aber nicht kocht, dann wird sie niemanden interessieren.

Informelle Hierarchien bilden sich dann, wenn einzelne Bereiche autark und ohne ständige Transparenz.Checks arbeiten können (wieder ist die Audimax-Bewegung, die genau so gearbeitet hat, ein Musterbeispiel).

Und natürlich ist es, vor allem im strategischen Bereich, dringend nötig, zentrale Fragen auch im Rahmen von überzeichneten Szenarios stellen zu können - was nur dann funktioniert, wenn man das innerhalb eines geschützten Raumes kann. Wer Diskussionen hinter verschlossenen Türen als prinzipiell undemokratisch empfindet, begreift den menschlichen Faktor innerhalb von Entscheidungsfindungen nicht.

Basisdemokratische Bravheit als stotternder Motor

Dieses Unverständnis ist natürlich auch medien/generationsbedingt.
Wer über seinen Medienzugang und seine Peer Groups mitbekommen hat, dass man sich per Abstimmungs/Feedback-Tools beteiligt und jeden darüber hinausgehende Einsatz bereits als (undemokratische) Intervention empfindet, wird genau dort steckenbleiben: im Fegefeuer des zu geringen Einsatzes für seine/ihre Sache.

Diese Halbgarheit ist ja auch eines der Basis-Probleme der Generation Angst. Die muss sämtliche Übergangsprobleme, die der Umstieg der analogen in die digitale Gesellschaft bringt, ausbaden.

Denn natürlich wird sich ein Modell fast totaler Transparenz (nicht zuletzt auch wegen der immer rigideren Beschränkungsmodelle von Behörden, aber auch der freiwilligen Unterwerfung unter Facebook/GooglePlus-Standards) und eine Demokratisierung durch direkte digitale Feedbacks irgendwann einschleifen und durchsetzen - davon bin ich überzeugt.
Der Versuch, diese Ideale jetzt aber sofort zu installieren, und auf die Einhaltung von vielleicht künftig richtigen, aber momentan noch nicht handhabbaren Richtlinien zu pochen - keine so gute Idee.

Es sind also nicht die lachhaften Heimholungs-Versuche der alten Medien und die klassischen Glatteis-Führ-Streiche der alten Parteien, die den Berliner Piraten vor wirkliche Probleme stellen werden (denn: wenn sie daran scheitern, dann wären sie untauglich) - es sind die strukturellen Fragen einer tauglichen digitalen Transparenz-Demokratie. Die vor allem eines können müssen: jetzt, im Übergangszeitalter funktionieren.