Erstellt am: 25. 9. 2011 - 16:22 Uhr
Nördliche Seilschaften mit Musik und Kunst
ninazimmermann.com
In Anbetracht der sich drastisch senkenden Temperaturen im September ist es eigentlich ein totaler Wahnsinnsplan ein Festival zu veranstalten. Eines mit Veranstaltungen vor der Haustür. Das Wetter in der Hansestadt hat sich allerdings von der schönsten Sonnenseite gezeigt und vergangenes Wochenende besuchten rund 20.000 Menschen eines der spannendsten und vielfältigsten Festivals dieses Kontinents. Das Reeperbahnfestival am Hamburger Kiez hatte seine Pforte geöffnet.
St.Pauli bei Tag
Musik, Medien und Kultur entdecken. Selten findet sich im Angebot des Reeperbahnfestivals ein bekannter, großer, schillernder Fisch mit bereits fruchtender massentauglicher Vermarktung. Vielmehr befindet sich das Publikum im Zustand des Entdeckers, vor dem bunte Fischli aller Arten tanzen, die noch entweder Geheimtipps oder lokale oder Spartenbekanntheiten sind. Beim Anblick des Programms selbst und der Tatsache, dass man nur drei Tage dafür Zeit hat, drehen sich mir jedes Jahr tanzend die Zellen wie Derwische im Kopf. Von Konzerten über Literatur, Ausstellungen, speziell für die Musikbranche veranstalteten Tagungen und get-togethers, es scheint aus allen Nähten zu platzen. Üblicherweise brennen dann die Sicherungen durch, das Programm wird in die Ecke gepfeffert und das Bauchgefühl treibt mich. Dieses Jahr sind mir einige Besucherinnen begegnet, die ebenfalls genau diese Lösungsvariante umsetzten. Die Wenigsten kennen tatsächlich die Künstler oder Musiker, man möchte selbständig explorieren. Das Konzept rund um den Spielbudenplatz geht auf diese Weise wunderbarst auf.
Affenkampf und goldene Indieaxt
Lena Wolf
Für mich stand bereits bei der Flugbuchung fest: dieses Jahr werde ich Hamburg bei Tag sehen und nicht bis Sonnenuntergang dem eigenen Übermut erliegen. Hamburg selbst bietet schon viel, die drei Tage Ende September sind dann der Overkill für Kulturtouristen wie mich. Über 200 Veranstaltungen in 40 locations, von Kopfhörerdisco, wunderbar gelungen mit einem Stereo MCs DJ Set, über den ABC day für Einsteiger ins Musikgeschäft, der gloriose Affenkampfabend vom Audiolithlabel, einem Songwriter Camp, einer live vor Ort agierenden Vinylmaschine, Ausstellungen, die Verleihung der goldenen Indieaxt, bis hin zu meinem jährlichen Highlight, der Flatstock Poster Convention, spezialisiert auf Gitarrenkonzertposter mitten auf dem Spielbudenplatz. Für letztere schlachtete ich mein Sparschwein, habe das zwanzigste Melvinsposter, konnte mir dafür am letzten Abend noch vor Mitternacht kein Getränk mehr leisten.
Rausschmeißerlyrik
Normalerweise sind Lesungen nicht unbedingt Veranstaltungen, die mich aus dem Haus treiben, wirklich sehenswert allerdings war die vor Ort angebotene Türsteherlesung.
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Drei Rausschmeißer verpackten lyrisch ihre Abende mit dem Kiezpublikum und betrieben sympathischste Psychohygiene. Die goldene Indieaxt 2011 für mutiges und unkonventionelles Auftreten in der Independentkultur, ging übrigens an Gudrun Gut, der großartigen Künstlerin, deren innerer Motor noch immer die Subversivität und Authentizität vor Kommerzialisierung zu sein scheint. Bei der Preisverleihung bat sie im Übrigen darum, dass man sie nicht mehr nach Geschlechterquoten fragen soll, sondern bitte endlich die männlichen Labelbetreiber.
No Hit Wonders und Benedikt
Musikalisch gab es, nebst den öffentlichen Konzerten und unterschiedlichen länderspezifischen Fokussen, zum ersten Mal ein zweitägiges Canada House, veranstaltet von der Canadian Independent Music Association mit Acts ab dem frühen Nachmittag. Am Samstag eröffnete der wunderbare Rae Spoon bei strahlendem Sonnenschein und versprach im anschließenden Interview ein neues Album schon am Beginn des neuen Jahres. Am gleichen Tag spielten Effi, Francis International Airport und Ja, Panik vor dem Hamburger Publikum. I might be totally predictable, aber ich habe klarerweise erneut den norddeutschen Punkrock No Hit Wonders, dem Turbostaat gelauscht, habe mir von der Tante Renate elektronisch den Hintern versohlen lassen und beobachtet, dass die Frittenbude ein viertes Mitglied haben, das dem Papst verdächtig ähnlich sieht, allerdings Windeln trägt und in Audiolithgaffaband eingewickelt ist.
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Für nächsten September habe ich definitiv einen Plan und jetzt schon Sehnsucht nach dem Gewirr des breit gefächerten Publikums, den Acts, die es wieder zu entdecken gibt, der scharfen Ecke, dem grünen Jäger, vermisse Übel und Gefährlich, den Fischmarkt bei Sonmnenaufgang; und die Sehnsucht nach den Landungsbrücken setzt spätestens morgen ein.