Erstellt am: 22. 9. 2011 - 19:14 Uhr
Herr Jesus springt
Zum Schreiben gekommen wie zum Atmen
Ein Portait von Isabella Straub
Wenn Raoul gut gelaunt ist, spielen wir Wo ich niemals leben möchte. Wenn er schlecht gelaunt ist, aber immer noch gut genug, um sich aufheitern zu lassen, spielen wir Wo ich niemals sterben möchte. Wenn ich merke, dass die Stimmung kippt, lasse ich ihn gewinnen.
Ich beiße mir auf die Unterlippe und tue so, als würde ich nachdenken, obwohl ich tausend Orte nennen könnte, an denen ich nie und nimmer sterben möchte. Wenn es so weit ist, reibt Raoul sich die Hände. Manchmal kneift er mich auch in die Wange, das kann ich nicht leiden.
„Gewonnen.“
„Scheint so.“
„Feiern wir?“
Er öffnet den Gürtel seiner Hose, lässt mich dabei nicht aus den Augen. Seine Beine sind weiß und dünn wie zwei Leuchtstoffröhren. Während ich meine Mundhöhle mit Tee vorwärme, erinnere ich mich an meine Klavierlehrerin. In ihrer Wohnung möchte ich nie und nimmer sterben, das steht fest. Sie hieß Frau Weinzierl und war sehr gläubig. Auf ihrem Klavier lagen drei Rosenkränze. An der Wand hing ein in einen Goldrahmen gefasstes Foto, das sie mit dem Papst zeigte. Sie kniet vor dem Papst so wie ich vor Raoul. Bereit, beinahe alles zu tun. Der Papst ist längst tot und selig gesprochen. Raoul ist lebendig und warm.
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Manchmal kniff uns Frau Weinzierl in die Wange, aber nur, wenn sie gut gelaunt war. Wenn sie schlecht gelaunt war, notierte sie jeden unserer Fehler in einem Schulheft. G statt Gis, Dominantseptakkord misslungen, Pause nicht eingehalten. Wir mussten uns unsere Strafe selbst ausdenken.
Um uns gegenseitig zu versichern, wie gut es uns geht, fahren Raoul und ich in unregelmäßigen Abständen an einen Ort, der sowohl in der Wertung Wo ich niemals leben möchte als auch in der Wertung Wo ich niemals sterben möchte vorn dabei ist. Diesmal ist es der Park Rothneusiedl, ein Wohnturm an der Wiener Peripherie. Er sieht aus wie eine Pyramide, an die man Balkone drangeschraubt hat. Rothneusiedl ist ein beliebter Hot Spot für Selbstmörder, sagt Raoul. Vor allem
wegen seiner Schikane. Da sich das Gebäude nach unten hin verbreitet, müssen die Lebensmüden einen ordentlichen Anlauf nehmen, um nicht auf einem der Balkone aufzuschlagen, zwischen Pelargonien und Kugelgrill. Das gelinge nicht allen, sagt Raoul.
Ich weiß nicht, ob ich ihm das glauben soll, aber ich tue es. Schließlich werden wir im Juni heiraten, und Ehe bedeutet Vertrauen, sagte der Priester im Ehevorbereitungskurs.
Wobei er „Vertrauen“ aussprach wie „verdauen“, und ich dachte: Ja, eine Menge zu verdauen, auch schon vor der Hochzeit.
Wir müssen zweimal die U-Bahn-Linie wechseln, dann stehen wir vor der Pyramide wie zwei Touristen, die sich verlaufen haben.
„Und jetzt?“
„Was, und jetzt?“
„Na was jetzt?“
Rund um die Pyramide erstreckt sich die Bulimiezone der Stadt. Alles sieht aus wie zerkaut und ausgespuckt. Kein Park weit und breit, nicht einmal ein Grünstreifen. Ich lege meinen Kopf in den Nacken und schaue hinauf zu den Balkonen. Schlaffe Kletterpflanzen, die sich am Sichtbeton entlangranken, gelb-weiß gestreifte Markisen. Dazwischen ein Eckchen Himmel, eingeklemmt zwischen der Pyramide und dem Docht des Fernheizkraftwerkes.
„Los, du läutest an.“
„Nein, du läutest, ich rede.“
Ich entscheide mich für Gundula Jesovsky. Guter Sound, ein Name im Dreivierteltakt.
„Ja.“
Eine dürre Stimme.
Raoul schiebt sich vor die Gegensprechanlage.
„Scheinmeier“, sagt er. „Grüß Gott.“
Es knackt und rauscht in der Leitung.
„Von der Bibelrunde?“
„Nein, wir – also wir kommen von der Uni Wien. Dekanat für Hochhauspsychologie.“
Hochhauspsychologie! Der Mann hat Nerven. Ein Summen, Raoul drückt gegen die Tür. Im Treppenhaus ist es kalt. Auf der Treppe zum Keller: eine Kinderwagenprozession.
Der Aufzug reißt sein Maul auf. Siebzehnter Stock. Ich weiß nicht, was wir hier verloren haben. Es riecht nach Hund.
Ich beobachte die schattige Mulde zwischen Raouls Nase und seinem Mund. An der Ecke des Schneidezahns ist eine Einkerbung, die mit der Zeit dunkler geworden ist. Der ganze Mann dunkelt nach, er bekommt Flecken, Kerben, Risse. Von einer Fieberblase ist eine kleine rosa Narbe übrig geblieben. Immer wieder hatte er an der Wunde gekratzt, die frische Haut mit den Fingernägeln weggeschabt. Ich frage mich, wie er aussehen wird, wenn er fertiggemeißelt ist.
„Herr Dekan“, sage ich.
„Lass mich nur machen“, sagt er und grinst. Er kontrolliert seinen Seitenscheitel im Spiegel.
Luftschacht Verlag
Gundula Jesovsky steht an der Tür. Sie ist klein und schrumpelig, wie ein Kleidungsstück, das mit zu hoher Drehzahl geschleudert wurde. In ihren Augen spiegelt sich die Ehrfurcht vor dem Akademischen.
Sie bittet uns in einen dunklen Flur, dann weiter in ein dunkles Wohnzimmer. Kassettendecken, Biedermeier-Mobiliar, eine Pendeluhr. Es riecht nach nasser Wolle. Diese Frau gehört in eine Altbauwohnung im Zentrum, denke ich, mit Flügeltüren und hohen Decken, damit die Erinnerungen gut zirkulieren können.
Sie bietet uns Zirbenschnaps an, und ich sage: „Bitte keine Umstände“, aber sie scheint sich über den Besuch zu freuen, und ich bereue bereits, dass wir hergefahren sind und Erwartungen wecken, die wir niemals erfüllen können.
„Ich gehe nicht oft hinaus“, sagt sie. „Denn ich muss ja mit dem Lift hinunter und danach wieder hinauf, dazwischen kann viel passieren. Wenn man jung ist, denkt man nicht daran. Aber dann kommt das Alter, und man hat Angst, dass der Lift stecken bleibt.“
Früher sei sie gerne ins Theater gegangen, sagt sie. Nach Schönbrunn und in die Oper. Vor allem in die Oper. „Und eines Tages“, sagt sie, „habe ich die Spiegel gesehen und war alt.“
Ich suche mein Spiegelbild im Glas, um den Zustand meiner Wangen zu kontrollieren. Das Alter beginnt an den Wangen, sagt man, dann metastasiert es in andere Körperteile. Ganz langsam – eine grausame Finte der Natur, damit man sich nicht wehren kann. Wenn man sich zu wehren beginnt, ist es immer schon zu spät. Zunächst erschlafft die Haut, dann verlieren die Konturen des Kinns an Schärfe, der Hals wird breiter und wulstiger, bis er so aussieht, als sei er aus mehreren Ringen zusammengeschraubt. Ich habe so eine Entwicklung schon mit angesehen und fürchte mich davor, deshalb trinke ich schnell aus. Der Schnaps schmeckt nach dunklem, feuchtem Wald.
Ich blinzle hinüber zu Raoul, der sein Glas zwischen den Fingern dreht. Er verträgt keinen Alkohol. Als wir das letzte Mal Wo ich niemals sterben möchte spielten, sagte er: „In der dunkelsten Ecke der Brauerei, eingeklemmt zwischen zwei Bierfässern.“
„Dann kommen Sie also von der Universität“, sagt die Frau.
„Darf ich Ihr Bad benützen?“ fragt Raoul und ich denke: Großartig, immer wenn es eng wird, macht er sich aus dem Staub.
„Wir untersuchen die Auswirkungen des Wohnungsniveaus auf die Lebensqualität“, sage ich, ohne nachzudenken.
Ich bin mittlerweile davon überzeugt, dass wir uns geirrt haben, und dass es sich hier sehr wohl gut sterben ließe, warum auch nicht. Mit dem Blick auf den Donauturm, auf das Allgemeine Krankenhaus, auf das Riesenrad, das in der Nachmittagssonne flirrt.
Die Frau streicht ihren Rock glatt. Sie scheint zufrieden mit meiner Antwort. Die Klospülung rauscht, und dann steht Raoul schon wieder im Zimmer. Er muss den Kopf einziehen, um nicht an die Kassettendecke zu stoßen.
„Mit dem Hochhaus ist das so eine Sache“, sagt die Frau. „Anonym, wissen Sie. Dreizehn Nachbarn in fünfzehn Jahren. Wie soll man sich da an wen gewöhnen?“
Ich frage mich, ob man sich überhaupt jemals an irgendwen gewöhnen kann. Oder ob es nur die gemeinsamen Rituale sind. Bevor wir einschlafen, wärmt Raoul meine Füße, indem er mit seinen Waden meine Fußsohlen reibt. Wir haben da eine spezielle Technik entwickelt. Dafür nehme ich einiges in Kauf.
Ich schaue der Frau ins Gesicht und erkenne plötzlich, wie sie ausgesehen haben muss, als sie jung war. Ich suche die Wand nach Fotos ab: Eltern, Kinder, Männer. Nichts. Vielleicht hat sie ein Kind bekommen, und es ist gestorben, vielleicht hat sie einen Mann gehabt, und er ist gestorben, vielleicht hat sie immer nur sich gehabt und ist alt geworden, ohne es zu merken.
„Seit einigen Jahren wohnt ein Blinder im Haus“, sagt die Frau. „Sein Hund kann mit der Schnauze den Aufzug bedienen und hat sich noch kein einziges Mal geirrt. Er hat mich sogar einmal ausgebessert, als ich mich verdrückt hatte.“
Ich male ein Galgenmännchen in meinen Block. Galgen, Kopf, Rumpf, Arm, Arm, die Hände sind kleine Kreise.
Seit kurzem zähle sie ihre Schritte, sagt die Frau. Sie müsse mit ihren Kräften haushalten. Sieben Schritte vom großen Tisch zur Kredenz, zweiundzwanzig Schritte in die Küche. Sie steht auf und sagt: „Acht Schritte vom Fauteuil zum Herrn“, und gerade, als ich fragen will: „Zu welchem Herrn?“, zeigt sie auf ein Kruzifix, an dem ein erstaunlich wohlgenährter Christus befestigt ist. Pausbacken, ein Rettungsring um die Mitte, feste Schenkel.
Er sei gerne draußen an der frischen Luft, sagt sie. Wegen ihm habe sie sich für den siebzehnten Stock entschieden. „Damit er näher am – Sie wissen schon.“ Sie deutet mit dem Zeigefinger an die Decke.
Ich wechsle einen Blick mit Raoul. Jetzt hat er seine Story, daran wird er sich festbeißen, um sie später in Ruhe auszuweiden. Im Park Rothneusiedl wohnen lauter Irre, wird er sagen, völlig Verrückte. Blindenhunde, die mit Aufzügen fahren, alte Jungfern, die ihre Kruzifixe auf dem Balkon auslüften.
„Und? Gefällt es ihm hier?“ fragt Raoul.
„An klaren Tagen sieht man bis zum Kahlenberg“, sagt die Frau. „Das können Sie ruhig schreiben.“ Sie deutet auf mich. „Los, schreiben Sie das auf! Kahlenberg.“
Ich zeichne die Beine des Gehängten, seine Schuhe und den Querbalken des Galgens.
Die alte Frau löst das Kruzifix vom Haken, beiläufig, so wie man eine Jacke von einem Garderobehaken nimmt und öffnet die Schiebetür zum Balkon. „Na los“, sagt sie zu uns, kommen Sie!“
Der Balkon ist aus Beton und so groß wie zwei Doppelbetten.
Am Horizont die Silhouette der Stadt, scharfe Ränder, in den Himmel gemeißelt. Kein Laut, so als stünden wir auf einem Berggipfel.
Gundula Jesovsky nennt die Nachbarn, indem sie mit dem Kruzifix auf die Balkone deutet: „Brunner, Haberl, Wasmaier, Konrad, das ist der Blinde. Sehen Sie die Babybadewanne? Darin badet er seinen Hund.“
Als sie „Hund“ sagt, geschieht es. Eine winzige Unachtsamkeit, eine Fehlschaltung der Synapsen, eine vorübergehende Muskelschwäche, jedenfalls öffnet sie ihre Hand, ich sehe plötzlich einen Gegenstand durch die Luft sausen und denke mir: Woher das wohl kommt. Raoul ruft „Nein!“ und rudert sinnlos mit den Armen durch die Luft, Gundula Jesovsky sagt gar nichts, sie sieht aus, als hätte sie aufgehört zu atmen. Wir beugen uns alle drei über die Brüstung und sehen dem Herrn Jesus nach, der einen Salto rückwärts vollführt, beinahe elegant, und ich muss mich beherrschen, um nicht zu klatschen.
Dann ein dumpfer Ton, ein Aufklatschen, und Raoul sagt: „Haben Sie das gehört? Er ist in der Babybadewanne gelandet, er ist gerettet.“ Raoul wiederholt das Wort wie ein Mantra: „Gerettet, gerettet, gerettet.“
Bei Gundula Jesovsky scheint es nicht anzukommen, immer noch hält sie sich an der Brüstung fest, die Knöchel ihrer Finger sind weiß vor Anstrengung. Ich sehe Raoul an, und er sieht mich an. Ich möchte so gerne sagen: Es ist ein Versehen, wir sollten nicht hier sein, das ist kein Spiel.
Raoul hält die Frau an ihrem rechten Oberarm, ich halte sie an ihrem Linken. Wir sprechen zu ihr in je ein Ohr. „Wir holen ihn herauf, nicht wahr, Raoul? Wir bringen ihn zurück. Er wird feucht sein, aber ganz. Bestimmt ist er noch ganz.“
„Gerettet“, sagt Raoul. „Gerettet.“
„Es reicht“, sage ich zu ihm, über den Kopf der alten Frau hinweg.
Gundula Jesovsky lässt sich von uns zurück ins Wohnzimmer führen. Ich zähle mit, es sind zwölf kleine Schritte.
„Wir können nichts dafür“, sagt Raoul, als wir aus der Wohnung hasten. „Wir können wirklich nichts dafür.“
Wir steigen in den Lift. Ich drücke den „Türen schließen“-Knopf und frage Raoul, in welchem Stock der blinde Mann denn nun wohnt. Im zwölften? Oder hat sie gesagt: dreizehn?
„Keine Ahnung“, sagt Raoul.
Wir stehen eine Weile da, ohne uns zu rühren.
„Und jetzt?“
„Was, und jetzt?“
„Das Kreuz“, sage ich. „Das ist ja wohl klar. Wir finden es und tragen es zurück.“
Raoul lehnt sich an die polierte Aufzugwand und schließt für einen Moment die Augen. Er sieht beinahe unschuldig aus. Dann beugt er sich nach vorn und drückt auf „E“. Der Aufzug setzt sich ruckelnd in Bewegung.
Ich beobachte den Countdown der Stockwerke auf dem Display. Wahrscheinlich sucht man sich das ganze Leben lang seine Strafen selbst aus, denke ich. Freiwillig. Und wenn du es merkst, ist es zu spät. Wenn du anfängst, dich zu wehren, ist es immer schon zu spät.