Erstellt am: 29. 9. 2011 - 12:42 Uhr
Tagebuch zum Jahr des Verzichts (28)

marc carnal
2011 wird Tagebuch geführt und verzichtet: Monatlich auf ein bestimmtes Sucht- und Genussmittel, auf Medien oder alltägliche Bequemlichkeiten.
Jeder Verzicht ist klar eingegrenzt. Es gelten freiwillige Selbstkontrolle und dezenter Gruppendruck unter den Mitstreitern.
Sonntag, 18. September
■ Hilfe! Der mir bisher unbekannte Rapper Haftbefehl aus Offenbach schimpft in seinem Song "Cho du weisst" wie folgt:
"Sipi, Puto, Ese, Carnal
Ich verteil dein Gehirn auf dem Asphalt"
Oh mon dieu! Was hat der Rüpel denn gegen mich? Die Herren oder Damen Sipi, Puto und Ese sind mir ebenso unbekannt wie der Grund, warum mich der Sprechsänger schmäht.
Lieber Haftbefehl, wenn du diese Zeilen liest, sei dir versichert, dass ich demnächst mit deiner Mutter Unzucht zu treiben gedenke!
Ansonsten bin ich für sachdienliche Hinweise dankbar.
■ Öffentliches Geständnis: Gleich für zwei Wörter die richtige Schreibweise gelernt! Dachte bisher, es hieße Trommelfeld statt -fell.
Noch schlimmer: War bisher der Überzeugung, man würde "per Nachname" bestellen. Meine Erklärung war, dass der Postbote die Sendung nicht in einen nummerierten Postkasten wirft, sondern den Empfänger antreffen muss, der dann mit seinem Nachnamen unterschreibt.
Auweia!
Montag, 19. September
Internationaler "Sprich-Wie-Ein-Pirat-Tag"
■ Übersetzungen von Sport-Schlagzeilen oder Presse-Zitaten in ausländischen Medien klingen stets ein bisschen so, als hätte man die Passagen einfach durch Bable Fish geschickt. "Messi, der Gladiator im Ring des großen Klassikers, geht neunzig Minuten durch ein Feuer der tänzelnden Inbrunst" (erfundenes Beispiel) - Die Praktikanten scheinen sich zu oft am Wörterbuch zu vergreifen.
marc carnal
Dienstag, 20. September
■ Aus "Gleich hundert Übersetzungsvorschläge für An apple a day keeps the doctor away":
Äpfel sind das beste Mittel
gegen Herrn im weißen Kittel.
Ärzte schlachten gern in Gruppen
kleine Apfel-Voodoo-Puppen.
Wisst ihr, wovon Ärzte träumen?
Wurmbefall auf Apfelbäumen!
Ein Punkt bei vielen Arztkongressen:
“Wie drosseln wir das Apfelessen?“
Trinkst du Apfelsaft statt Branntwein,
braucht der Arzt ein zweites Standbein.
■ Warum sagen Moderatoren von Boulevard-Sendungen bei Trennungen von Prominenten immer Sätze wie:
"Gute Nachricht für alle Frauen: George Clooney ist wieder Single!"
Geht man in den Klatsch-Redaktionen etwa davon aus, dass sich dann alle weiblichen Zuseher freuen und Herrn Clooney hoffnungsfroh kontaktieren?
Mittwoch, 21. September
■ Die große Zeit von Harald Schmidt ist längst vorbei. Die letzten vier bis fünf Jahre seiner ersten Sat1-Phase lebten von der Mischung aus Schmidts Routine und dem trotzdem noch vorhandenen Feuer, der täglichen Ausstrahlung und seiner Studio-Belegschaft.
Die viele Sendezeit, die es zu füllen galt, zwang Schmidt und Konsorten zu Verzweiflungsaktionen wie kompletten Shows, die Schmidt auf einem Laufband zubrachte, auf Französisch oder im Dunkeln moderierte, zu Fischstäbchen-Zubereitung, viertelstündigen Autobahn-Fahrten, unzähligen Zuschauer-Spielen oder ausufernden Selbstexperimenten.
Diesen eigentlichen Mangel an Programm und vorgegebener Dramaturgie konnte Dirty Harry meisterhaft füllen, indem er improvisierte. Diese Improvisation war vor allem durch das Stammpersonal im Studio wirkungsvoll. Der durchschnittlichste Durchschnittstyp aller Zeiten, Manuel Andrack, die zickige Suzana und der tapsig-doofe Helmut Zerlett bildeten ein Ensemble, in deren Mitte Harald Schmidt zu glänzen wusste. Hier kam all das perfekt zur Geltung, wofür man ihn zu Recht verehrt(e): Die breit gefächerte Bildung, die elegante Sprache, die parodistischen Fähigkeiten, die ungeheure Schlagfertigkeit, das Talent, Alltagssituationen mit dem exakt richtigen Maß an Überhöhung darzustellen und die Gabe, Geschichten zu erzählen. All das gepaart mit dem Handwerkszeug eines echten Entertainers.
Ich bezweifle, dass Schmidt diese seine vielen Waffen alle verloren hat. Doch spätestens seit den unrühmlichen zwei Jahren neben Oliver Pocher verlässt er sich zusehends auf seine Autoren, auf durchschnittliche Comedy-Einspielfilme, durchgehend choreographierte Studio-Aktionen und auf ein Team, das einfach nicht zu Schmidt passt, weil es sich einerseits zu sehr am Meister orientiert (und daran scheitert) und andererseits kaum in Interaktion mit ihm tritt.
Harald Schmidt ist gut, wenn er auf die Regeln des Mediums pfeift. Seit Jahren bedient er sie aber mustergültig. In den ersten Shows seiner nun angebrochenen zweiten Sat1-Zeit blitzten in ganz wenigen Momenten wieder der Irrsinn, der Wagemut und die Spontaneität von früher auf und wirkten gleichzeitig doch nur wie ein zu bemühtes Selbst-Zitat.
In den letzten Jahren wurde ihm öfter Lustlosigkeit vorgeworfen. Ich attestiere Schmidt eher eine Verkrampftheit im Umgang mit dem Glanz der Vergangenheit, die dem Bemühen geschuldet ist, ihn zu wiederholen.
Wenn er diese Ambition endlich aufgegeben hat, wenn Konzeptlosigkeit und krampfloser Irrsinn wieder die Show bestimmen und wenn sich Studio-Personal herauskristallisiert, das nicht lustig sein will und muss, sondern vielmehr Gesprächs-Komparserie für Harald Schmidt darstellt, könnte die Latenight-Show womöglich noch einmal zum Pläsier werden. Aktuell ist sie es nicht.
Donnerstag, 22. September
Autofreier Tag - Man kommt mir entgegen
■ Jeder dritte jener Männer, welche die Bänke am Lerchenfeldergürtel-Radweg zu belagern pflegen, sieht aus wie Paul Gludovatz nach einer durchzechten Woche.
■ Bei der Supermarktkasse liegt ein herrenloser Apfel. Er sieht unversehrt aus, also nehme ich ihn mit. Zwei Meter vor meiner Wohnungstüre finde ich am Boden gleich darauf ebenfalls einen Apfel.
Paranoia!
Freitag, 23. September
Herbstbeginn in Japan
■ Man könnte meinen, dass ich selten so viel zu Fuß gegangen wäre wie in diesem Monat. Das Gegenteil ist der Fall, weil etwa alle Gehwege von oder zu öffentlichen Verkehrsmitteln wegfallen. Ich steige noch in der Haustüre aufs Rad und fahre so nahe wie möglich zu meinem Ziel. Selbst verboten kurze Strecken absolviere ich mit dem Fahrrad.
Bisher habe ich ausgerechnet im September, dem besten Monat für ausgedehnte Wanderungen, keinen einzigen lohnenden Spaziergang unternommen.
■ "Wie sind sie sexuell orientiert?"
"Sehr!"
■ Habe in dieser Woche vier von fünf Ausgaben der "Barbara Karlich Show" gesehen. Schlimm!
Samstag, 24. September
Deutscher Tag der Raumfahrt
■ Lege die September-Regel, dass Ziele außerhalb der Stadtgrenze durchaus mit motorisierten Verkehrsmitteln erreicht werden dürfen, etwas großzügig aus und bestreite ausgerechnet den Wein-Wanderweg mit dem Bus.
Man mag mir das als halben Verstoß anrechnen.
■ Zungenbrecher-Versuch:
Wenn Doktoren Dekor-Torten bei Dekor-Torten-Konditoren horten, verantworten Doktoren Konditioren Dekor-Torten.
marc carnal