Erstellt am: 22. 9. 2011 - 13:11 Uhr
A Few Chords And A Cloud Of Dust
Eigentlich hätte es ja der 31.12.1999 werden sollen. Dass R.E.M. das immer scherzhaft prognostizierte Datum ihrer Auflösung dann doch nicht eingehalten haben, haben ihnen wohl nur wenige übel genommen. Aber sie kannten ihr eigenes Ablaufdatum, auch wenn sie es in den Augen vieler zu lange ignoriert haben. Und daher war es die letzten paar Jahre ein bisschen so, als würde man einem guten Freund beim Sterben zusehen. Zumindest für mich. Das gestrige Ende kam wenig überraschend.
Wie R.E.M. und ihre Musik mich und mein Leben verändert haben, dazu habe ich an dieser Stelle bereits alles gesagt.
Was bleibt, ist eine Anekdote aus jüngster Zeit. Ich muss gestehen: Ich habe einen kleinen "R.E.M.-Schrein". Ist eigentlich mehr eine große, separate Schreibtischlade, in der ich über die Jahre alles von der Band abgelegt habe. Bis auf eine Sache: den unter R.E.M.-Fans sagenumwobenenen Guide "A Few Chords And A Cloud Of Dust". Angeblich der einzige Katalog, der umfassend alle Releases und Bootlegs auflistet. Ich habe mir das Teil immer als dicken, verstaubten, magischen Hogwarts-Wälzer vorgestellt. Eine Bibel. Unmöglich sie zu bekommen.
Bis zu meinem letzten Geburtstag. Soviel vorweg: Der "Katalog" ist ein dünnes Heftchen und magisch war daran wenig. Auch kenne ich die meisten Releases, die darin aufgelistet werden, längst auswendig. Viel wichtiger als R.E.M. oder ein Katalog ist der geliebte Mensch, der die Untiefen des Internets durchforscht hat, um meinen Schrein zu vervollständigen. Und dafür danke ich dieser Band: Dass sie oft das Verbindungsstück zu meinem Glück war.
Legendäre Videos zu all den Hits gibt es auf dem Youtube-Channel von R.E.M.
A Few Chords and a Cloud of Dust gibt es auch jetzt zum Abschied. Hauptsächlich Songs, die es noch zu entdecken gilt. Für Fans und all jene, die es vielleicht noch werden wollen.
1) "Last Date" (B-Seite, 1987)
Ein gutes R.E.M.-Mixtape fängt mit einem Instrumental an, erst recht, wenn es wie "Last Date" ein Cover ist. Coverversionen und Instrumentals waren für R.E.M.-Fans immer wieder mal die Kirsche auf dem Sahnehäubchen, auch wenn es sich um obskure B-Seiten oder nicht fertig gestellte Nummern handelte, weil Stipe einfach nie Lyrics zu ihnen schrieb. "Last Date", eigentlich von Floyd Cramer, ist ein liebliches, kleines Trauerspiel auf der B-Seite von "It's The End Of The World As We Know It (And I Feel Fine)", und daher so passend: Die Chaos-Theorie zum Tanzen auf der einen Seite, auf der anderen die Nachwehen der Party, allein zurückgelassen auf einem Berg von leeren Flaschen, Müll und unerfüllten Hoffnungen. Fun Fact: Ein paar Jahre später bekam diese Version von R.E.M. dann doch eine Stimme: jene von Debbie Harry.
2) "Leave" (1996)
"Leave" muss eigentlich für jeden, der zu dieser Band finden will, am Anfang stehen. War bei mir nicht anders, damals war zwar "E-Bow The Letter" die wirklich erster große Liebe, aber "Leave" mit seiner epischen Breite kam gleich danach. Bis dato ist "Leave" mit seinen sieben Minuten das längste R.E.M.-Stück und auch sicherlich eines der spannendsten. "New Adventures In Hi-Fi" wurde für 1996er Verhältnisse wild produziert, teils in Waschräumen aufgenommen und mit Live- und Studioauftritten gemixt. Das spürt man auch hier, wenn das langsame Intro in Zeitlupe abläuft, irgendwo aufgenommen in einer Ecke, wo man auch ein Mikro hinstellen konnte. Und dann beginnt der Orkan. Übrigens auch zu empfehlen: Die alternative Trance-Version auf dem "Life Less Ordinary"-Soundtrack.
3) "Kid Fears" (Indigo Girls feat. Michael Stipe, 1989)
Ich hatte Glück R.E.M. in meiner Jugend zu entdecken. Ich war ein Außenseiter: Ich trug die falschen Klamotten, hatte die falschen Freunde, sah die falschen Filme, unterstützte das falsche Team, verliebte mich in die falschen Mädchen. Mit R.E.M. lag ich aber aus irgendeinem Grund goldrichtig. Da fühlte ich mich verstanden, als ich nächtelang seltsamen Stücken wie "Carnival of Sorts" oder "Gardening at Night" lauschte. R.E.M. waren damit das Zentrum meiner musikalischen Welt, die sie dankenswerterweise für andere öffneten: Radiohead, Wilco, Sparklehorse, Vic Chesnutt, Kristin Hersh, Patti Smith, Elliott Smith, Grant Lee Buffalo, Natalie Merchant, selbst Nirvana und Pearl Jam: Dank R.E.M. habe ich zu ihnen gefunden. Nicht selten hat sich die ganze Band als Background-Musiker hergeben. Für mich immer ihre Großtat: Wegbereiter sein für andere. So auch bei "Kid Fears" von den Indigo Girls - Stipes Gesang beginnt etwa bei 2:30. Die Wärme seiner Stimme hat meine Jugend gerettet: "Kid Fears".
4) "Harborcoat" (Live at Rockpalast, Bochum, 1985)
Die frühen R.E.M.: Wie sich R.E.M. bei ihrem "Rockpalast"-Auftritt 1985 präsentierten, ist vermutlich bis heute noch Vorbild für viele junge Bands. Da war alles dabei, was in den sogenannten "I.R.S.-Jahren" (der ersten Indie-Plattenfirma der Band), die Magie der Gruppe ausmachte: Stipe mit seinen kryptischen Lyrics (was zum Teufel ist ein "Harborcoat"?), hier mit blondgefärbten Haaren, leicht vor dem Mikro zappelnd, ein Abbild von Ronald McDonald auf seinen Rücken geklebt. Daneben breitet Mike Mills mit seinem bübischen Haarschnitt brav und zuckersüß den Harmonieteppich aus, Peter Buck macht auf der anderen Seite eine Pirouette nach der anderen. Und Bill Berry? Der hält alles zusammen.
5) "Fall On Me" (MTV Unplugged, 1991)
1991 war das große Jahr der Jungs aus Athens, Georgia: "Losing My Religion" katapultierte sie über Nacht zur Supergroup, "Out Of Time" wurde Grammy-prämiert. Vom Erfolgsalbum spielten sie an diesem Abend aber nur eine Handvoll Songs, stattdessen kramten sie in ihren, dem breiten Mainstream weitgehend unbekannten Vorgängeralben, darunter in "Lifes Rich Pageant" (1986). "Fall On Me" ist eine der großen Nummern dieses Albums, der dialogische Gesang von Stipe-Mills-Berry ist legendär. Während Stipe mit seinem Fischerhut den pessimistischen Part übernimmt und erwartet, dass der Himmel ihm auf den Kopf fällt, lugt der spitzbübische Mike Mills hinein und fragt etwas dümmlich, was es denn da oben zu sehen gäbe. Schlagzeuger Bill Berry mimt mit seinem Part die breite Masse, die einstimmt: "It's gonna fall!". Und das alles in diese liebliche Melodie zu verpacken, ist groß. Man achte auch auf Stipes Augenrollen nach der zweiten Strophe, Gänsehaut.
6) "Country Feedback" (Road Movie, 1995)
Für viele der beste Song dieser Band. Interessanterweise ist die Album-Version auf "Out of Time" (1991) ein netter kleiner Country-Song, erst live wird daraus dieser Brainwash, dieses hilfesuchende Meisterwerk für heranwachsende Teenager in den Abgründen ihrer Adoleszenz. Diese Live-Version von "Country Feedback" hat mich auch visuell zum großen Fan gemacht. Während Nirvana und Co. die Teenage Angst in Wut und Selbstzerstörung verpackten, war das hier anders, obwohl es um dasselbe Thema ging. Hier sprachen Leute zu mir, die diese Zeit bereits hinter sich hatten und mit einer Ruhe daherkamen, die mich faszinierte. "It's crazy what you could have had" als Kernzeile dieses Songs, unterstützt von den projizierten Bildern von orientierungslosen Jugendlichen mit Einkaufswagen, Stipe, der auf die Knie geht, während draußen manche Zuschauer den Ausgang suchen. Und dann dieses Gitarrensolo.
7) "Try Not To Breathe" (1992)
Eines der unbekannten Stücke des großen Albums "Automatic For The People". Zwölf Lieder über den Tod, manchmal pathetisch, aber immer mit einem Schimmer Hoffnung. Die Legende besagt ja, dass man nach Cobains Tod diese CD in seiner Anlage fand. Dass Cobain R.E.M. abgöttisch verehrte, ist bestätigt, der Rest eine nicht bewiesene Legende. "Try Not To Breathe" stand immer im Schatten der großen Singles (immerhin fünf Stück), aber es ist trotzdem ein glorreicher Song. "Try Not To Breathe" wurde als Titel übrigens in der Studiosituation geboren: Peter Buck atmete beim Spielen so laut, dass er sich mit "try not breathe" die Stille einmahnen musste.
8) "Revolution" (Road Movie, 1995)
Stilbruch. Jeder, der R.E.M. mit "Losing my Religion", "Man on the Moon", "Everybody Hurts" oder gar "Try not to Breathe" in Verbindung brachte, bekam 1994 mit dem Release von "Monster" eine richtige Watschn ins Gesicht. R.E.M. machten auf Glam Rock, Mills zog sich seine Nudie Suits an und die Band ging nach jahrelanger Pause endlich wieder auf Tour. "Revolution" schaffte es nie auf "Monster", war nicht einmal eine B-Seite, sondern landete am Soundtrack des schlechtesten "Batman"-Filmes ever. Trotzdem ein Statement, das sie schon bei ihrem "Road Movie" 1994 auf die Bühne brachten und das ihren Sound neu definierte. "The scum is rising, yeah."
9) "Wall of Death" (B-Seite, 1997)
R.E.M. haben es irgendwie geschafft, die fremden Stücke zu ihren eigenen zu machen. Ich erinnere nur an den legendären Auftritt von "Automatic Baby", bei dem die Rhythmus-Sektion von U2 gemeinsam mit Stipe und Mills "One" spielten. Die beste Version dieses U2-Kalauers, die mir je untergekommen ist. Oft waren es aber die unbekannteren Stücke, die nur die Insider wirklich kannten. Eines davon war "Wall of Death" von Richard Thompson, die musikalische Country-Adaption von "Einer flog übers Kuckucksnest". Für mich die beste Coverversion, die R.E.M. je veröffentlicht haben. Unabhängig des doofen Fanvideos.
10) "Walk Unafraid" (Perfect Square, 2003)
Nachdem Schlagzeuger Bill Berry die Band auch aus gesundheitlichen Gründen verlassen hatte, hat sich auch die Gruppendynamik verändert. Und tatsächlich war die Ära "Post-Berry" anders. Manche sagen schlechter, ich bleibe bei "anders". Tatsächlich war die Spontanität früherer Alben weg, die Angst etwas falsch zu machen, hatte auf "Up" (1997) noch seine Vorzüge. Danach wurden R.E.M. eine neue Gruppe, durch ein paar junge Haudegen wie Ken Stringfellow ergänzt, die der Band neue Energie einhauchten. Raus kamen Songs wie "Walk Unafraid", fernab jedes kommerziellen Erfolges, aber trotzdem noch genauso gut. Die Live-Version in Wiesbaden ist nur eine von vielen Beispielen der legendären R.E.M.-Sommerkonzerte in Europa.
11) "Sing For The Submarine" (Take Away Session, 2007)
Wenn über die Alben in den Nuller-Jahren gemeckert wurde, hat man gerne mit traurigem Blick auf einzelne Lichtblicke geschaut. Ein Juwel davon war "Sing For The Submarine" auf der 2008 veröffentlichten Testosteron-Kur "Accelerate". Stipe zitiert sich in den Lyrics selbst, bereits hier ließ sich erahnen, dass er nach einem zyklischen Abschluss seines musikalischen Schaffens mit der Band suchte. Herausragend bleibt die Version von Vincent Moon und seiner Blogotheque, die R.E.M. 2007 in einem dreckigen Silo in Athens aufgenommen haben.
12) "Here I Am Again" (?) (unveröffentlicht, ca. 1990)
Zum Abschluss ein großes Highlight. Einer meiner Top 5 R.E.M.-Songs, obwohl er nie veröffentlicht wurde und nicht einmal klar ist, ob er wirklich so heißt. Seit Jahren kursiert eine Aufnahme namens "Here I Am Again" im Internet, die irgendwann Anfang der 90er zustande kam. "Kerouac No.5" ist ein weiterer Titel, in einem Interview vor Jahren konnte Mike Mills mit beiden Titeln nichts anfangen. Ein großes Mysterium, aber ein wunderschön jazziges und meine letzte Verneigung vor der Band.
Ein guter Freund hat mir vorhin eine SMS geschrieben. Inhalt: "Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei." Ein bisschen Trauern ist aber erlaubt. Ich habe schließlich "meine" Band verloren.
Ich hatte Glück, dass es diese war.