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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

21. 9. 2011 - 20:19

Journal 2011. Eintrag 172.

Die Bedrohung durch die Piraten ist deren Forderung nach direkter und partizipativer Demokratie.

2011 ist Journal-Jahr - wie schon 2003, 2005, 2007 und 2009. Das heißt: Ein täglicher Eintrag, der als Anregungs- und Denkfutter dienen soll, Fußball-Journal '11 inklusive.

Hier finden sich täglich Geschichten und/oder Analysen, die ich als passionierter Medien-Konsument selber gern gelesen/-sehen/-hört hätte, aber nirgendwo (oder nur unzureichend) finden konnte; und deshalb selber ausforschen und durchdenken muss.

Heute mit einer Weiterführung der ersten Gedanken zum Erolg der Piratenpartei in Berlin von diesem Sonntag.

Eine tolle weiterführende Analyse dazu in der Süddeutschen Zeitung.

Gut, das politische Establishment hat aktuell ja ganz andere Sorgen.
Da geht es hauptsächlich darum, wer so halbwegs sauber aus den aktuellen Korruptionsfällen, egal ob Telekom-Skandal oder Inseraten/Medien-Affäre hervorgeht. Und da einigen sich dann auch verfeindete Oppositions-Parteien.

So gesehen ist es verständlich dass niemand wirklich Zeit findet sich mit den Auswirkungen der ersten Wirkungstreffers der Piratenpartei auseinanderzusetzen.
Gut, man kann deren Bedeutung für Österreich (aus teilweise auch guten Gründen) wegdiskutieren. Man kann das Ganze als Problem der Linken oder als vorübergehenden Erstwähler-Protestgag abtun und es damit den Grünen umhängen.

Greift alles deutlich zu kurz, finde ich.
Berlin (bzw. der dortige Wahlausgang) erzählt selbst uns im Hinterland der demokratiepolitischen Moderne, was kommen wird. Vielleicht nicht so, aber so ähnlich. Vielleicht nicht in diesem Umfang, aber durchaus in einer gesellschaftsverändernden Form.

Der Elchtest für die Erneuerungsfähigkeit der Parteien

Die Piraten sind keine Gefahr für die Demokratie, sie sind ein Zeichen der Hoffnung und ein Elchtest für die Erneuerungs-Fähigkeit.

Gut, die tendenziell urbanen (oder urban denkenden) tendenziell Jungen und tendenziell gut Ausgebildeten machen in Österreich nicht den Anteil aus wie in Ägypten oder Tunesien (dazu sind die aktuellen Bildungssstandards zu schlecht, da spricht die Demographie dagegen, dazu ist auch die restriktive Migrationspolitik zu vernagelt) - trotzdem hat diese Gruppe der U35 mehr Gemeinsamkeiten als andere Bevölkerungs-Teile; und deswegen auch Interesse an einer ganz konkreten Vertretung.

Wie der Obrigkeits-Staat, in dem Vorsicht und Rücksicht auf Machtverhältnisse den öffentlichen Umgang definieren, funktioniert - und wie leicht seine lächerliche Fassade anzukratzen ist - zeigt der "Die große Chance"-Vorfall rund um Michael Jeannee, den mächtigen Kronen-Zeitungs-Niederschreiber und dem seinen Asperger-Gestus immer stärker pflegenden Sido, vor allem aber der knieweichen Rolle, die der Zirkusdirektor B. Paul dabei einnimmt.

Hier das Transkript dieser grotesken Szene, hier das (extrem tonschwache) Video dazu.

Die Ausstrahlung diesen Freitag erfolgt trots schwerer Geschütze, die die Krone in den letzten Tagen dem ORF gegenüber aufgefahren hat.

Die digitalen Eingeborenen sind durch das basisdemokratische Wesen des Netzes, durch leichtgemachte Partizipation und simple Abstimmungs-Tools andere Standards gewohnt, als der alte Obrigkeits-Staat Österreich. Sie stehen den alten Usancen nicht mehr teilnahms-, sondern zunehmend verständnis- und fassungslos gegenüber.
Das Netz und seine Teilnahme haben, recht unbemerkt, bereits zwei bis drei Generationen mit dem Verlangen nach direkter Demokratie geimpft.

Das Netz impft den Wunsch nach direkter Demokratie ein

Und dieser Punkt ist es, der bei den Piratenparteien in Wahrheit im Vordergrund steht. Nicht so sehr die sehr konkreten Urheber/Patentrecht-Anliegen (da ist nur eine Frontlinie) auch nicht die Forderungen nach verbesserter Bildung (die mit anderen Gruppierungen geteilt wird).

Und dieser Punkt ist es auch, der die anderen politischen Kräfte so zum Ächzen bringt. Direkte und partizipative Demokratie geht sich für die (nicht mehr ganz so) großen Volksparteien nicht aus - die fahren ein Repräsentations-Modell von Vertrauensleuten und Kämmerern wie im 19. Jahrhundert. Es geht sich auch für die neoliberalen und rechtsnationalen Führerparteien nicht aus - die sind über Kadavergehorsam strukturiert. Aber auch die einstmals auf anstrengenste Art und Weise basisdemokratisch organisierten ehemaligen Bürgerinitiaven und die daraus entstandenen Grünen haben unendliche Probleme mit diesem neuen Zugang.

Die in Deutschland und Berlin ganz offensichtlich - ein möglicher Sieg von Künast wurde durch die Piraten verhindert - , die in Österreich definitiv.
Der katastrophale Knieschuss der Wiener Grünen anlässlich einer piratös zustandegekommenen, partizipatorisch angelegten Vorwahlaktion vom Herbst 2009 ist noch in bester (nein: in übelster) Erinnerung.

Partizipation verhindern heißt die Jungen abkoppeln

Aus diesem damaligen Fehler, der die Grünen wie eine ranzige Altpartei erschienen ließ, hat sie nichts gelernt. Auch weil (mit der Ausnahme von Christoph Chorherr und vielleicht noch zwei anderen) niemand verstanden hat, warum man da so verkehrt lag.
Jetzt wäre wieder ein Anlass da, seine Vorgangsweise zu überdenken und an das Denken einer Generation anzupassen, die nicht mehr weggehen wird.

Und das gilt nicht nur für die Grünen, sondern für alle Volks-Vertreter. Ob die ihren alten, analogen, demokratiepolitisch schon extrem stotternden Stil aber überhaupt noch ablegen können, das ist eine andere Frage.