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Rainer Sigl

Spiel, Kultur, Pop im Assoziationsblaster.

26. 9. 2011 - 16:32

Once upon a game

Steckt das Storytelling in Videospielen in der Krise? Ein paar ketzerische Gedanken zum Konflikt zwischen Gameplay und Story.

Am Dienstag findet in Wien eine bemerkenswerte Konferenz statt: Die stagconf versammelt im Naturhistorischen Museum eine illustre Runde von Games-Designern und -Denkern zum Thema "Innovatives Storytelling in Computerspielen". Das wird spannend, denn ein nüchterner Blick von außen zeigt, dass im jungen, sich rasant entwickelnden Medium Computerspiele auf die titelgebenden Innovationen im Storytelling mit Ungeduld gewartet wird - und das schon längere Zeit.

Ist es überhaupt wichtig, dass Computerspiele eine Story erzählen? An dieser Frage entzündete sich bereits vor Jahren, in der Anfangszeit der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Games um die Jahrtausendwende, eine hitzige Debatte. Während die ins hippe Zukunftsfeld Game Studies einströmenden Kulturwissenschaftler Spiele pauschal als "Texte" sehen wollten, die mit den erprobten Werkzeugen der traditionellen Disziplinen erforscht werden könnten, strichen andere Forscher vehement den Unterschied des Mediums Spiel zu den älteren Kunstformen hervor: Ein Spiel, so das Argument, definiere sich primär durch die Interaktionsmöglichkeiten. Ein kleiner Gelehrtenkrieg war vom Zaun gebrochen, der als Konflikt zwischen Narratologen und Ludologen die traurige Berühmtheit erlangt hat, als erster ideologischer Grabenkampf der jungen Disziplin Games Studies zu gelten.

Brauchen Spiele überhaupt Narration? "Tetris" kam ohne aus.

Gameplay vs. Story?

Wie traditionell bei Diskursen zwischen Akademikern wurde hier die Realität des Feldes als zweitrangig betrachtet - jeder Spieler wird wohl anerkennen, dass in den meisten Fällen sowohl Erzählung, also Narration, als auch Spielmechanik ihren Beitrag zu leisten haben, mal mehr, mal weniger. Tatsächlich zeigt sich in der Verschmelzung beider Elemente ein Alleinstellungsmerkmal, das Computerspiele von rein erzählenden Medien - Literatur, Theater, Film - einerseits und rein spielerischen Kulturtechniken - Spielzeug, abstrakten Spielen wie Schach oder Karten- und Würfelspielen sowie Wettkampfsport - andererseits unterscheidet.

Dabei ist es augenscheinlich gar nicht so einfach, Interaktivität und Narration, also das Erzählen einer Geschichte, schlüssig unter einen Hut zu bringen. Narration, wie wir sie aus Literatur oder Film kennen, ist Einwegkommunikation, und deshalb ist sie auch so gut: Der Autor oder Regisseur führt uns, zeigt uns mit Absicht Einzelheiten oder Motivationen aus einem festgeschriebenen Blickwinkel und lässt den Konsumenten sozusagen auf Schienen durch die Erzählung gleiten. Tempo, Plot und Ausgang sind festgelegt.

Beim Spiel ist diese Rollenaufteilung naturgemäß komplizierter. Jede Interaktion, jede Entscheidungsmöglichkeit des Spielers stellt potentiell die Autorität des Erzählers in Frage, ein Thema, mit dem sich erst vor kurzem The Stanley Parable auf kluge Weise befasst hat. Wie Spannung aufbauen, wenn das Tempo in der Hand des Spielers liegt? Wie einen Plot voranbringen, wenn der Spieler sich frei bewegen kann? Wie einen gewünschten, stimmigen Schluss erzwingen?

Richard Perrin, Indie-Entwickler, hält ein Plädoyer fürs Storytelling in Spielen.

Play the movie! Aber warum?

Einige Experimente von Indie-Games-Produzenten verweisen in interessante Richtungen - auch wenn hier meist dem Storytelling der Vorzug gegenüber dem Gameplay gelassen wird..

Ein - subjektives - Best-of:

"Digital: A Love Story" bleibt zwar linear, aber lässt den Spieler sich die Story stückweise erarbeiten, "Gravity Bone" verbindet Gameplay und Narration zu einer packenden Short-Story, "The Path" kombiniert Erzählen und Spiel auf meditativ-unheimliche Art und Weise, was auch "Judith" mit gänzlich anderen Mitteln gelingt. "Small Worlds" wiederum beweist, dass man zum Erzählen gar keine Worte braucht.

Wer sich allerdings im Gegensatz dazu mit dem reinen Wort begnügen kann, sollte einen Blick auf die Interactive-Fiction-Kleinode von Adam Cadre werfen.

Natürlich haben Games seit den Tagen von "Pong" gewaltige Schritte hin zur Narration gemacht. Spiele wie "Silent Hill", "Planescape: Torment" oder "Deus Ex", um willkürlich ein paar zu nennen, erzählen spannende Geschichten. Trotzdem bleibt streng genommen meist die Handlung unabhängig vom eigentlichen Spiel, werden die Entscheidungen des Spielers in vorgegebene Lösungswege gedrängt und die Spielhandlung schlimmstenfalls durch nicht beeinflussbare Cutscenes erzählt. Ein klassisches narratives Gerüst wird dem Spiel übergestülpt - interagieren kann man dann ja in den Spielsituationen zwischen den erzählenden Blöcken.

Das langjährige Versprechen der Industrie, "spielbare Filme" zu liefern, zeigt einen hartnäckigen Irrtum: dass Spiele mehr wie Filme sein sollten, in denen der Spieler selbst die Hauptrolle spielt. Nur wenigen Ausnahmetiteln gelingt das Kunststück, hier tatsächlich fruchtbare Hybride entstehen zu lassen - die "Uncharted"-Reihe, "Heavy Rain", "Alan Wake", "Mass Effect" , "Portal" oder auch Rockstar Games' innovatives "LA Noire" versuchen mit variablem Erfolg, filmische Narration und Gameplay unter einen Hut zu bringen.

Dass als Referenz nicht nur Film, sondern auch Literatur selbst herhalten kann, bewies mit gar nicht wenig Erfolg das leider nur mehr in Nischen lebendige Genre des Textadventures, heute schick "Interactive Fiction" genannt. Hier regiert das geschriebene Wort, und Klassiker wie die legendären Infocom-Titel "Zork" oder "The Hitchhiker's Guide to the Galaxy" zeigen auch heute noch, dass es nicht einmal Grafik braucht, um zu faszinieren.

Eins muss aber im Hinterkopf behalten werden: Storytelling ist aber nicht überall gefragt: Bei einer noch größeren Anzahl von Spielgenres - Strategie, Simulationen, Sportspielen, MMOs, Online-Shootern - ist Narration von Vornherein überflüssig - bei ihnen überwiegt das Gameplay.

dsa menü des spiels, illustriert mit meinen kleinen drachen

Tim Denee

Storytelling ganz ohne Autor: Illustrator Tim Denee verarbeitet seine Abenteuer im Sandbox-Game "Dwarf Fortress" zu fantastischen Bilderbüchern

Eine, viele oder keine Geschichten erzählen?

Wie nun beides, Gameplay und Storytelling, sinnvoll verschmelzen? Ist es für einen Autor überhaupt möglich, die potenziell unendlichen Interaktionsmöglichkeiten des Spielers mit einem linearen Skript zu vereinen? Möglicherweise liegt die fernere Zukunft des Storytellings ja gar nicht bei den Autoren, sondern beim Spieler selbst. Während traditionell geschriebene Spiele mehr oder weniger linear bleiben müssen, der vorgegebenen Story wie auf Schienen folgen und somit mit der Interaktivität des Mediums nur halbherzig umgehen können, bieten Sandbox-Spiele wie "The Sims" oder "Minecraft" potenziell eine Unzahl an Erzählungen, die sich aus dem Spielverlauf selbst ergeben. Jeder "Sims"-Spieler kann wohl haarsträubende Familiengeschichten, jeder "Civilization"-Spieler epische Historien erzählen.

Je weniger die Fantasie des Spielers durch den Autor eingeschränkt ist und je mehr Möglichkeiten ein offenes Spielkonzept anbietet, desto kreativer können die sich durch das Spielen ergebende Narrative ausfallen. So betrachtet ist es kein Wunder, dass ausgerechnet narrativ dürre, aber dafür offene MMOs wie "EVE Online" derart epische "Geschichte" produzieren und wagemutige Spieler der berüchtigt unzugänglichen Indie-Games-Legende "Dwarf Fortress" hunderte fantastische Erzählungen in eigenen Story-Repositories oder als Illustrationen nacherzählen, die sie der unglaublich detaillierten, offenen Welt des Spiels abgerungen haben.

Analog zum Begriff des "Emergent Gameplay" könnte man, gameswissenschaftlich nicht ganz korrekt, von "Emergent Narrative" sprechen und die offenen Spielewelten analog als endlos Geschichten generierende Erfahrungsräume bezeichnen. Die Aufgabe des Designers solcher Welten wäre es dann, den Spielern die nachträgliche Erzählung ihrer ganz eigenen Geschichte zu erlauben, die naturgemäß mal besser, mal schlechter zu den aus den statischen Gattungen Literatur und Film bekannten Handlungsgerüsten passen würden. Der Preis für die Freiheit wären aber dann wohl Storys, die sich mit den ausgeklügelten Handlungen "geschriebener" Narration nicht messen könnten.

Sieht so der Geschichtenerzähler der Zukunft aus? "Infinite Adventure Machine".

Narration braucht Autoren - noch

Kunstprojekte wie die "Infinite Adventure Machine" weisen in eine interessante Richtung: Aus den strukturellen Grundelementen von Märchen errechnet der Algorithmus unendlich viele neue Märchen, die Fantasie des menschlichen Lesers erledigt die sinnvolle Zusammensetzung zu einer Geschichte. Es darf vermutet werden, dass der erste MMO-Produzent, der eine derartige "Narration Engine" sinnvoll einbinden kann, ziemlich viel Geld scheffeln wird.

Naht im Spiel also gar das Ende des Autors? Wenn ich mit meinen Sims oder meiner Corporation in "EVE Online" ebenso spannende Geschichten erleben kann wie in linearen Spielen, die von Autoren traditionell geschrieben werden, und diese Geschichten dann auch noch einzigartig und tatsächlich interaktiv sind - wozu brauche ich dann eigentlich noch einen Autor?

Die Stagconf eine eintägige Konferenz zum Thema "Innovative storytelling in computer games", findet am Dienstag, 27.9. im Naturhistorischen Museum statt.

Zur Beruhigung: Es dürfte noch dauern, bis auf Autoren im klassischen Sinne verzichtet werden kann. Gut erzählte, von Menschen erdachte Geschichten schlagen nach wie vor prozedural generierte Ereignisse um Längen - Geschichtenerzählen ist immerhin eine große Kunst, die Formeln und Algorithmen noch lange nicht so gut beherrschen werden wie der Mensch - wenn dies überhaupt jemals erreicht werden kann. Vermutlich finden sich noch interessante Zwischenschritte, die Games-Designer und Autoren zu innovativen Formen interaktiven Storytellings führen werden.

Die Frage, die sich unmittelbar stellt, ist also nach wie vor eine des Verschmelzens von Ludologie und Narratologie: Erzählen und Interaktion zu verbinden ist die Herausforderung, der sich das Medium wieder und wieder stellen muss. Man darf also gespannt sein, was die geladenen Sprecher am Dienstag bei der stagconf zu diesem Thema zu sagen haben. Platz für Innovation im Storytelling wäre jedenfalls genug.