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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

18. 9. 2011 - 22:50

Journal 2011. Eintrag 170.

Der erste Enterhaken sitzt. Was können Piraten politisch?

2011 ist Journal-Jahr - wie schon 2003, 2005, 2007 und 2009. Das heißt: Ein täglicher Eintrag, der als Anregungs- und Denkfutter dienen soll, Fußball-Journal '11 inklusive.

Hier finden sich täglich Geschichten und/oder Analysen, die ich als passionierter Medien-Konsument selber gern gelesen/-sehen/-hört hätte, aber nirgendwo (oder nur unzureichend) finden konnte; und deshalb selber ausforschen und durchdenken muss.

Heute mit einem Versuch über Piraten. Aus Anlaß der Berlin-Wahl.

Mit 5 oder 6 Prozent hatte man gerechnet. Und weil Umfrage-Ergebnisse oft mit einerseits sozial erwünschten Antworten, andererseits aber auch mit Poser-Angaben verfälscht werden (klassisches Opfer: die Grünen, die jahrzehntelang deutlich bessere Umfragewerte als Wahlergebnisse hatten), war man geneigt, einen Kampf um die 5-Prozent-Hürde zu erwarten, die über Senats-Sitze entscheidet.
In Berlin, heute, bei der Landtagswahl.
Es wurden dann 9 Prozent. Für die Nobodies von der Piratenpartei, einer Special Interest-Vertretung ohne große Konzepte in zentralen Belangen wie Finanz/Ökonomie/Soziales.

Ich muss zugeben, dass ich damit nicht mehr gerechnet hatte. Die deutschen Piraten hatten bei allen kleineren und größeren Wahlen, bei denen sie angetreten waren, doch deutlich unter den Erwartungen agiert, in jeder Hinsicht. Die Versuche der österreichischen Piraten, Aufmerksamkeit zu bekommen, trugen eher parodistische Züge.

Der Erfolg in Berlin kam also vom Timing her gerade rechtzeitig. Und die 9% sind ein Erfolg.
Denn natürlich ist der Satz "Wenn nicht in Berlin, wo denn dann?" gerechtfertigt. Eine Bewegung, die aus den prekären Kreisen von in Netz/Medienszenen verhafteten Digital-Natives entspringt, muss in einer Stadt wie Berlin, die ein zentraler Zufluchtsort dieser Schicht ist, funktionieren.

Was bedeutet der Erfolg der Piratenpartei in Berlin?

Nur: die Ausgangsbedingungen waren denkbar schlecht. Die Partei ist in ihrer basisdemokratischen Struktur natürlich weder medien- noch wahlkampffit. Die Programme in den Bereichen Netzpolitik, Datenschutz, Bildung oder Urheber/Patentrecht sind außerhalb einer kleinen Gruppe Interessierter kaum vermittelbar. Der nerdische Appeal der fast frauenlosen Bewegung hat wenig Sex.

So gesehen steht hinter den 9% der aktuellen Wähler ein massives Potential an Menschen, die man mit etwas besserer und konkreter Ansprache erreichen könnte. Zumal die Piratenwähler laut Wählerstrom-Analyse aus allen Lagern kommen: SPD, Linke, Grüne, Nichtwähler; und für viele Wähler der mittlerweile praktisch verschiedenen FDP ist das Privatsphäre-Angebot der Piraten mehr als attraktiv.
Dazu kommt, dass die Piratenwähler bis etwa Mitte 40 überproportional vertreten sind, d.h. dass sie nicht nur von lustigen Erst- und Protestwählern angekreuzt wurden - auch wenn der Protest natürlich den ersten Impuls setzt, sich überhaupt mit ihnen zu beschäftigen.

Im reichen Süden der Bundesrepublik werden die neuen Darlings nichts reißen - es braucht die tendenziell norddeutsche Direktheit und die prekäre Situation vor allem der Städte als Nährboden.

Kann Österreich oder zumindest Wien jemals Berlin werden?

Stellt sich die Österreich-Frage.
Hierzulande, wo die Grünen viele Jahre länger gebraucht haben, und viel unschärfer, vager, patscherter, bürgerlicher und verspießter dastehen als die Partei von Roth, Trittin, Künast oder Ozdemir, verliert sich das konzis-ironische Element des Piratentums wahrscheinlich völlig. Im Norden kann man mit Störtebeker-Geschichten noch was anfangen, hierzulande orientiert man sich eher an legendären Räuberhauptmännern.

Es ist eben nicht weiter verwunderlich, dass die Piraten in Schweden und Deutschland ihre Basis haben - das ist ein recht liberales und protestantisch-kühles Konzept, für katholische Bergvölker eher ungeeignet.

Zudem ist die einzige Gruppe im Medien/Netz-Bereich, die ansatzweise Piratenthemen auf ihre Agenda setzen könnte, nämlich die Szene um den Mikro-Mischkonzern SuperFi/Monopol-Verlag die Agentur der Grünen.
Selbst Wien ist also zu klein, zu wenig jugendlich, zu wenig digital für eine politische Diversifikation in Sozialdemokraten, Grüne, Linkspopulisten und Netzdemokraten.