Erstellt am: 20. 9. 2011 - 16:14 Uhr
Sick City
"Look, bitch, I don’t care about you.
I don’t care if you're going to have a baby.
You had better be ready.
You’re going to die, and I don’t feel anything about it."
(Susan Atkins vor dem Mord an Sharon Tate, 8. August 1969)
![© Walde & Graf Sick City-Cover](../../v2static/storyimages/site/fm4/20110937/sick_city_verlosung_side.jpg)
Walde & Graf
Bill liegt tot auf dem Bett. Jeffrey starrt eine Weile regungslos auf die Leiche, aber rasch wird ihm klar: Er muss hier weg. Dass Bill mit seinen 78 Jahren an Herzversagen stirbt, würde niemanden verwundern. Dass aber der fünfzig Jahre jüngere Stricher Jeffrey, mit dem Bill jahrelang eine geheime Affäre hatte, bei ihm ist, eventuell schon. Für Fälle wie diese hatte Bill zum Glück vorgesorgt: In einem Safe hinterließ er Jeffrey ein bisschen Geld, ein bisschen Koks – und eine unbeschriftete Filmrolle.
Mit den für ihn bestimmten Nachlässen in den Händen flüchtet Jeffrey auf eine Drogen-Odyssee. Sein Umgang könnte schlechter nicht sein, ein Trip folgt auf den nächsten. Dass Jeffrey mit dem bisschen Geld von Bill in eine Entzugsklinik eincheckt, ist anfangs ein wenig ernstgemeinter Versuch, der sich dann aber zu einer goldrichtigen Entscheidung entwickelt. Jeffrey steigt nämlich nicht in irgendeiner Klinik ab, sondern in der berühmten Entzugsanstalt von Dr. Mike, einem Hollywood-Doktor, der in seiner Reality-TV-Show "Detoxing America" vor allem die Reichen von ihrer Drogenabhängigkeit kurieren möchte. In dessen Klinik lernt Jeffrey den äußerst wohlhabenden Junkie Randall kennen. Randall ist der ungeliebte Sprößling des größten Studiobosses in Hollywood und als Bills Filmrolle zur Sprache kommt, fängt die Geschichte so richtig an.
![© Walde + Graf Cover "Sick City"](../../v2static/storyimages/site/fm4/20110937/cover-sick-city_body.jpg)
Walde + Graf
Inside Hollywood
Das Filmband zeigt eine Partyszene. Zu sehen sind einige berühmte Leute: Steve McQueen ist da, Sharon Tate, Roman Polanski, Lee Van Cleef, Mama Cass. Die Prominenten sind ungezwungen, natürlich, offen. Sie sind alle ziemlich ausgelassen: Drogen, Pillen und Alkohol werden auf silbernen Tabletts weitergereicht und konsumiert. Und dann, während die Kamera läuft, ziehen alle auf einmal ihre Kleider aus und starten eine Sex-Orgie. Sharon Tate ist die einzige Frau in der Runde und schläft mit den anwesenden Männern: mit Steve McQueen, Yul Brynner, ihrem Mann Roman Polanski und vielen mehr. Der kleine Film ist mehr als nur ein privater Porno, er zeigt eine regelrechte Sex- und Drogen-Orgie.
![© Sharon Tate Sharon Tate](../../v2static/storyimages/site/fm4/20110937/sharon tate_body.jpg)
Sharon Tate
Lesung:
Am 20.9. ist Tony O'Neill zu Gast im Rabenhof Theater. Robert Stadlober wird die deutschen Texte des Autors lesen.
Dass die Ikonen der Swingin' Sixties durch das Bekanntwerden eines solchen Filmes nachträglich an Glamour verlieren würden, leuchtet ein. Vor allem, da die einzige Frau im Bunde ausgerechnet Sharon Tate ist. Tate ist Anfang der 60er eine aufstrebende Schauspielerin, Model und Covergirl für den Playboy und Ehefrau von Regisseur Roman Polanski. Ihre Karriere wird 1969 aber brutal beendet: Sharon Tate wird Opfer der "Manson Family": Vier ihrer Mitglieder, darunter Charles "Tex" Watson und Susan Atkins, verschaffen sich am Abend des 8. August Zutritt zu Tates Anwesen, schneiden die Telefonleitungen durch und ermorden Tates Bedienstete. Am Ende töten sie auch Sharon Tate, die zu diesem Zeitpunkt hochschwanger war. Sie starb unter 16 Messerstichen. Susan Atkins schrieb das Wort „PIG“ (Schwein) mit Tates Blut an die Haustür.
Ein Sextape mit Sharon Tate ist einige Millionen Dollar wert, das wissen auch Jeffrey und Randall. Sie müssen es nur an einen wohlhabenden Sammler verkaufen, Randalls Kontakte in die Filmbranche könnten da helfen. Allerdings stellt sich der Verkauf in der Praxis weitaus schwieriger heraus, denn dank ihrer Drogensucht stolpern Jeffrey und Randall mehr als nur einmal über die eigenen Füße und sind kurz davor es zu vermasseln.
![© Tony O'Neill Tony O'Neill](../../v2static/storyimages/site/fm4/20110937/1306498131_5_body.jpg)
Tony O'Neill
Fear and Loathing in Los Angeles
Seine eigenen Drogenerlebnisse prägen die Romane des New Yorker Autors Tony O'Neill. Seine ersten beiden Bücher "Digging The Vein" und "Down and Out on Murder Mile" werfen zusätzlich auch einen Blick auf den Drogenkonsum im Musikbusiness, in den O'Neill als Musiker bei Marc Almond und The Brian Jonestown Massacre einen guten Einblick hatte. Für "Sick City" nimmt sich O'Neill nun das Filmbusiness vor und zeichnet es als oberflächliches, dekadentes Drogenloch, in dem zwei Junkies, die außer Drogen nichts vorzuweisen haben, allzu leicht versinken können.
Bei O'Neill ist es egal, ob es sich um die goldenen Jahre Hollywoods oder die Gegenwart handelt: Abseits des Scheinwerferlichtes sind die glitzernden Filmsternchen dreckige Schweine, die sich in Sucht und Rausch verlieren. Mit einem Unterschied: In den 60ern gab es noch keine Paparazzis, noch keinen Aufschrei, wenn die Nippel einer Schauspielerin unter der Dusche an die Öffentlichkeit geraten. Umso pikanter ist daher auch der Auslöser dieses Romans, der durch seine Episoden selbst an einen Film erinnert: Ein Sextape, das ausgerechnet Sharon Tate zeigt, die aufgrund ihres hohen Bekanntheitsgrades, mitsamt ihres ungeborenen Kindes, durch fanatische Mörder einen frühen Tod erleiden musste.
Weitere Leseempfehlungen:
Und in der Gegenwart? Da werden die Fehltritte medienwirksam nach außen getragen: Charlie Sheen gibt reumütig zu, er hätte sich wegen seiner Eskapaden auch selbst gefeuert und geht auf Entzug. Wie so viele andere, deren Reinwaschung im TV übertragen wird. Nicht umsonst erinnert in diesem Buch Dr. Mikes Reality-Show "Detoxing America" verdächtig an "Celebrity Rehab" mit Dr. Drew. Tony O'Neills Roman ist in erster Linie Abrechnung mit der medialen Aufbereitung menschlicher Fehltritte, unabhängig davon, ob sie von Prominenten stammen oder nicht.
Das alles verpackt Tony O'Neill in eine farbenfrohe Geschichte, ergänzt durch anspruchsvolle Illustrationen des Schweizer Künstlers Michel Casarramona. Ein Drogen-Road-Movie, der sowohl inhaltlich als auch sprachlich an psychotrope Meisterwerke wie "Fear and Loathing in Las Vegas" von Hunter S. Thompson erinnert. "Sick City" ist an vielen Stellen vulgär und abstoßend, dadurch auch ein bisschen plakativ und berechenbar. Eine hübsch verpackte Droge ist es aber allemal.