Erstellt am: 16. 9. 2011 - 21:30 Uhr
Bartleby am AMS
Kurto Wendt ist eine Erscheinung. Äußerlich bärtig und stämmig, reizt im Gespräch seine herzliche und besonnene Art. Als Galionsfigur im Widerstand gegen Schwarz-Blau hat Kurto Wendt sein working class-Bewusstsein nie verheimlicht. Als freier Journalist und angestellter Medienbeobachter hat er in Bildungskarenz seinen ersten Roman geschrieben.
Samstag, 17.9. 20:00 Uhr präsentiert Kurto Wendt seinen Roman mit Kathi Morawek und Nora Sternfeld im rhiz, im Anschluss spielen First Fatal Kiss, denen Wendt ein literarisches Denkmal gesetzt hat.
Milena Verlag
In "Sie sprechen mit Jean Améry, was kann ich für sie tun?" nötigt das Arbeitsmarktservice den 32-jährigen Slacker Frank dazu, für sechs Wochen in einem Call-Center zu arbeiten.
"In vielen Call-Centern werden die Leute dazu angeregt sich ein Pseudonym zu nehmen, weil es einerseits eine persönliche Anrede geben muss, andererseits gibt es die Theorie, dass eine Beschimpfung am Telefon nicht so nahe geht, wenn es nicht der eigene Name ist." erzählt Kurto Wendt über Schauplatz und Titel des Romans.
"Was erwartest du noch vom Leben?"
(...) "Sie sind hier bei T-Mobile, Sie sprechen mit Jean Améry, was kann ich für Sie tun?" Frank tat so als hätte er ihren Einstieg gar nicht wahrgenommen. "Was erwartest du noch vom Leben?" Wie selbstverständlich wiederholte die Frau ihre Frage in derselben Tonlage. "Haben Sie sich verwählt?" Seit fünf Tagen beantwortete Frank dieselben Fragen; noch keine konnte ihn bisher irritieren. Die klare kühle Frauenstimme forderte ihn heraus, die Unverschämtheit ihrer Frage regte ihn an. "Sie sind hier bei T-Mobile."
"Ich nicht, mein Lieber, du bist bei T-Mobile."
Eine anonyme Anruferin beginnt Frank zu stalken. Immer wieder ruft sie ihn an und stellt ihm persönliche Fragen. Handelt es sich um eine Vorgesetzte, die seine Loyalität testet? Um eine Kontrolle vom AMS? Um eine Verrückte? Frank bleibt lange im Unklaren darüber, während sich sein Leben im Rythmus des Jobs neu ordnet.
"Wir konkurrieren mit deutsch sprechenden Polen in irischen Call-Centers, die gerade mal die Hälfte an Lohnkosten verursachen. Und trotzdem leistet sich T-Mobile ein Qualitäts-Call-Center im Herzen von Europa ... weil ihr mehr als doppelt so gut seid! IHR SEID GUUUT!!!", schrie ihnen der Telefonsektenführer zu und motivierte sie, dies auch selbst zu behaupten. "WIR SIND GUT!" mussten sie brüllen...
Solche Gehirnwäsche funktioniert bei Frank nicht. Auch wenn sein Selbstwertgefühl bescheiden ist, hat er zumindest das System, das auf Ausbeutung baut, durchschaut. Passiv sucht er einen von vielen möglichen Wegen des geringsten Widerstands, was ihn so einsam gemacht hat, dass in seinen erotischen Fantasien seine AMS-Betreuerin die Hauptrolle spielt.
Doch durch den Zugang zur Arbeitswelt scheint Frank perfider Weise wieder einen Zugang zur Welt zu gewinnen. Bo tritt in sein Leben und Frank schüttelt seine Vorstellung von Normalität in der Liebe ab. T-Mobile entdeckt in Frank eine wertvolle Ressource und bietet ihm einen besser bezahlten Job. Zuletzt entpuppt sich Franks Dasein als Teil eines Komplotts, er ist benutzt worden. Hat sich eine internationale Terror-Organisation ins System des AMS gehackt?
"Sie sprechen mit..." ist zum einen ein Wiener Großstadtroman, der mitunter im Krimi-Tonfall eines Wolf Haas erklingt. Soziologische Stadtbeobachtungen begleiten die Innenschau eines Charakters, dessen Schwäche vielleicht seine Stärke ist. Zum anderen ist der Roman das Psychogramm einer hohlen Arbeitswelt, die zwar in bunten Details geschildert wird, deren Grauen aber im Raum steht.
Jens Kornacker
„Gerade die Aufstiegsfantasien sind die Triebkraft, die Leute unsolidarisch werden lassen.“ sagt Kurto Wendt über die Tugend seines Protagonisten. Denn Aufstiegsfantasien hat Frank seit langem nicht.
Der Jean Améry, nach dem er sich nennt, war ein österreichischer Widerstandkämpfer und Literat. "Ideologie und Motivation", "Über die Tugend der Urbanität" sind Titel seiner Schriften. Eine offensivere Einbeziehung des Namensgebers und dafür eine Spur weniger Pop hätten Kurto Wendts Debüt-Roman vielleicht nicht geschadet. Ein Lesevergnügen ist das Buch auf jeden Fall.