Erstellt am: 10. 9. 2011 - 14:48 Uhr
Wo Körper keine Schatten werfen
Es ist kein guter Start in den Tag, wenn man für die eigenen Verhältnisse viel zu früh zum Flughafen taumelt und am iPod das Hörbuch "Imperial Bedrooms" von Bret Easton Ellis laufen hat. Es ist der neueste Höllenritt des "American Psycho"-Autors in die Abgründe des Showbiz. Es hebt nicht unbedingt die Laune und ist in der Lage, den Ekel vor anderen Menschen zu steigern, eine gute Vorbereitung für einen Amoklauf angesichts von Menschenmassen. Kollege Buzz, der Ghostpoet zum Flughafen bringt, überfährt mich fast auf dem Gehsteig zwischen den Terminals und kann sich ein Grinsen angesichts meines geisterhaften Zustands nicht verkneifen.
Der Flug hat Verspätung, ich bin gefangen in einer Kabine mit Männern Mitte dreißig, die ganz unironisch Tigershirts tragen, um auf ihre wahrscheinlich unglaubliche Potenz hinzuweisen und "1, 2, 3, Jagamasta" brüllen. Bret Easton Ellis hat doch Recht mit der Verachtung, die grade wie schwarzer Schleim aus meinen Kopfhörern in mein Hirn tropft.
In Berlin stehen alle Zeichen auf Weltuntergang, Nieselregen und dieses ekelhafte Afterhour-Licht, bei dem man keine Schatten wirft und dennoch sollte es einer der besten Festival Tage des diesen Text hier schreibenden Motzkübels werden. Als erste Besucherin betrete ich um 13 Uhr das gespenstisch leere Areal des stillgelegten Flughafen Tempelhof. Das Flughafengebäude wäre die ideale Kulisse für eine Hollywood-Comicverfilmung. Supervillian Hauptquartier, anyone?
natalie brunner
Ein surrealer Moment allein durch die Hallen zu schlurfen, die die Nazis 1936 für zwei Jahre zum flächengrößten Gebäude der Welt ausgebaut hatten, abgelöst vom Pentagon. Heut ist das flächengrößte Gebäude der Welt sicher ein Shoppingcenter.
Wie dem auch sei: 13.30, die Frisur sitzt wie immer nicht und ich habe ein Rendez-Vous mit den Damen von CSS, die milde freundlich und gütig angesichts meines Zustands sind und aufgrund ihres Humors und ihrer liebreizenden Wesensart geht mein Tag so richtig los.
natalie brunner
Sie sind, so wie ich, glücklich heute Primal Screams "Screamadelica" in ganzer epischer Schönheit zu hören. Sie erkundigen sich nach dem befinden meines Hundes, der vor ein paar Wochen ein Skype Interview mit ihnen unterbrochen hat. Außerdem: wie kann man mit seinen Eltern auf Facebook befreundet sein, ohne dass sie den ganzen Unsinn, der sie beunruhigen könnte, mitkriegen? Im Fall von CSS ist die Frage zusätzlich relevant, wie die Eltern auf die Texte und das Werk reagieren. Mit ungebrochenen Stolz, wird mir versichert, dann kommen die Einschränkungen: weil meine Mama kann kein Englisch, meiner Mama hab ich das Album nicht gegeben und dann hat sie es sich illegal runtergeladen und dann waren wir quitt, mein Papa hat Google Alerts auf mich gesetzt und deshalb weiß er jetzt alles, was nicht so gut ist, aber das ist sein Problem, aber so schlimm bin ich ja auch nicht. CSS ist die charmanteste Band der Welt und live ein Freuden und Ekstasespender, aber dazu später mehr.
natalie brunner
Punkt 14 Uhr eröffnet James Blake mit Leid und Wehklagen das Berlin Festival. Auch wenn ihr mich vielleicht jetzt noch weniger mögt, ich mag James Blake nicht. Ich mochte ihn sehr, als "CYMK" herauskam, aber bei dem Album da war mir zu viel Stimme, zu viel Raunen und Wehklagen und zu wenig von Blakes Brillianz als Produzent im Vordergrund zu hören. Erste Freunde tauchen auf und das Lustige am Vorabend beim Run Vie begonne Dubstep-Unterkategorien-Erfinden-Spiel wird fortgesetzt. Popstep ist zu wenig. Ich bin Verfechterin der Idee, eine Kategorie wie Sakral Step einzuführen, auch Schleichmichelstep wäre zu überlegen.
Mein Begleiter hasst mich 15 Minuten nach seinem Eintreffen, weil ich nicht aufhören kann über James Blake zu lästern. Als ich meine, der emotionale junge Herr, der mit Schlagzeug und Gitarrist auftritt, erinnert mich an eine depressive Mensch gewordene Version von Alvin and the Chipmunks, erwägt er allen Ernstes, mich stehen zu lassen. Aber es ist James Blake selbst, der mich lehrt, dass ich zuerst auf meinen Blutzuckerspielgel achten sollte, bevor ich unqualifiziert das Maul aufreiße.
Er fängt an, "Limit to you Love" zu spielen und ich will meine schon eingeübten Ekelhaftigkeiten vom Stapel lassen (Private School Soul Step 1000 Tränen tief), als er einen Subbass dazu mischt, der mir den Mund offen stehen lässt, sich anfühlt wie ein virtueller Schlag in die Magengrube, so ungefähr, wie wenn man aufgerissene Kondompackungen neben dem Bett des Beziehungspartners findet und sich sicher ist, dass die nicht mit einem verwendet worden sind. Wenn James Blake seine Stimme etwas zurück treten lässt und Musiker ist, mit der Macht des Basses flirtet, dann ist er brillant.
natalie brunner
Austra spielen direkt nach James Blake. Männliches Leid und weibliches Leid im direkten Vergleich. Ich mag Austra sehr, wenn sie ihren ätherischen Schmerz wie fast nicht spürbaren Nieselregen auf uns herabschicken. Und ich lerne auch etwas über mich selbst: Ich bin Sexistin. Ich kann mich auf Emotionen, Schmerz, Verletzbarkeit, vorgebracht von einer weiblichen Stimme viel leichter und unzynischer einlassen, als wenn eine männliche Stimme ihre Seele vor uns ausbreitet. So etwas Grundsätzliches und ich musste so alt werden, James Blake back to back mit Austra sehen, um das zu verstehen. Austra hantieren mit großen Gestiken, viel wellenförmiger Armeinsatz, mein Begleiter nennt es den Kunsthochschul Quallen Tanz. Austra sind Fever Ray ohne Psychogrusel, die Mumins ohne schwarze Morra. Mein Begleiter, der mir verbietet, irgendetwas zu schreiben, was er sagt, vergleicht den Keyboarder mit Thor auf Östrogenen.
Bret Easton Ellis holt mich zum letzten Mal an diesem Tag ein. Vor mir steht eine Teenager Crew, die sich auf 80er jahre Yuppie Rich Kids gestylt hat. Die Damen in Seidenkleidern mit Perlohrringen, der feine Herr im Tweed Sakko.
Ob die wohl Polo spielen und Hamster foltern, wenn sie nicht zu dem Synthie Elfen Pop von Austra Aerobic steppen?
Ich krieg Hunger, ein angemessener Zeitpunkt, um ein paar allgemeine Worte zum Berlin Festival zu verlieren. Es ist super enstpannt und gut organisiert. Von dem Stress, von dem alle letztjährigen Besucherinnen erzählten, keine Spur. Paul Snowden, der dem Festival das graphische Rundherum macht, hat ganze Arbeit geleistet.
natalie brunner
Dass es ayuvedische vegane Pfanne, Espressos, Fusilli mit Rucola-Pesto und nicht nur in ranzigen Fett ertränkte Dukatenchips und stinkende Tierleichen zu Essen gibt, sehe ich als Zeichen von zivilisatorischen Fortschritt. (verwöhntes Boboferkel, ich weiß).
natalie brunner
Warum Mercedes allerdings glaubt, bei diesem Festival auf die geeignete Zielgruppe zu treffen, ist mir ein Rätsel.
natalie brunner
The Rapture spielen Stücke aus ihrem neuen Album "In the Grace of your Love". In gewissenhafter Manier lese ich mir vor dem Interview alle Texte durch, in denen es oft um Verlust geht, ich hab es schwarz auf weiß. Als ich beim Interview als erstes die Frage stelle, ob diese Album ein "Break up"-Album ist, stellen sie mir durch die Blume die Gegenfrage, ob ich auf Drogen bin, weil ein "Break up"-Album ist es so ganz und gar nicht und ich bin auch die erste Person, die auf diese Idee gekommen ist. Es löst auf jedenfall große Heiterkeit aus.
natalie brunner
The Rapture vereinigen Elemente von vielem, was ich liebe, NY Post Punk, Funk, No Wave, ESG und Liquid Liquid blicken aus dem Olymp herab. Nach soviel Esoterik und sphärischen Schwelgen holt mich die Dynamik von The Rapture in die Welt zurück, ich ertrage sogar das Saxophon.
Ein Tag, an dem Körper wegen des diffusen Lichts keine Schatten werfen, ist ein perfekter Tag, um Rinbow Arabia zu sehen. Eigentlich ist jeder Tag ein perfekter Tag, um Rainbow Arabia zu sehen. Ihr wollt wissen warum?
Rainbow Arabia sind ein Duo aus Los Angeles, das aus Dance Pop, Dub und arabischer Musik, eine ganz eigene Art von Psychedelic definiert hat. Ihr Album "Diamonds und Boys" ist seltsamerweise auf dem Kölner für Minimal bekannten Label Kompakt erschienen.
natalie brunner
Viel Percussionn, Xylophon, Marimba, Pfeifen, Glocken kombinieren Rainbow Arbias mit verschachtelten Beats, Synthieflächen und einem Bass, der durch die Akustik des Hangars in reinen dröhnenden Schmerz verwandelt wird.
„ I hope ist alright, here it sounds like a big spaceship“ meint Tiffany Preston, die mit ihrem Mann Danny Preston Rainbow Arabia ist, auf der Bühne. Nein, es klingt gar nicht alright, aber ich liebe Rainbow Arabia und deshalb werde ich dem Schmerz trotzen, bis der letzte Ton verklungen ist.
CSS sind endlich auf der Bühne. Lovefoxxx ist eine Superheldin, davon bin ich nach diesem CSS Konzert überzeugt. Super ausgelassen schafft es die Band, das Publikum in eine Horde von herumhüpfenden glücklichen Kreaturen zu verwandeln, ein unagressiver Riot in Fragglerock. Als CSS "Let´s make Love" spielen crowdsurft Lovefoxxx - wie so oft während der Show und mit schwarzen Superhelden Cape und Diamant besetzter Fuchsmake kommt das natürlich doppelt so gut. Von "La Liberacion" spielen sie "City Girl" für jede und jeden, der der kulturellen Öde und Engstirnigkeit in eine große Stadt wie Berlin entflohen ist. Lovefoxxx geht Rad schlagend von der Bühne und ich bn fasziniert wie soviel Lebensfreude und Enthusiasmus in einen Menschen passt.
natalie brunner
Ein kleiner Tipp: CSS spielen am 11. September im Flex, sichert euch am Besten jetzt schon den Platz erste Reihe Mitte.
Dann endlich: Zwanzig Jahre musste ich warten, um Primal Scream endlich "Screamdelica" aufführen zu sehen. Wenn ihr keine Medienauthisten seid, was ihr mit Sicherheit nicht seid, da ihr das hier lest, dann dürfte euch nicht entgangen sein, dass alle schon ganz nervös sind, weil sich das Erscheinen von Nirvanas Nevermind zum zwanzigsten Mal jährt. Aber auch das Erscheinen von "Screamadelica". Und ohne jetzt Äpfel mit Birnen zu vergleichen, ich habe "Screamadelica" öfter gehört als "Nevermind". "Screamdelica" hat die Richtung, in die sich mein Geschmack, meine Ausgehgewohnheiten, also mein Leben entwickelt hat, mehr beeinflusst als "Nevermind".
natalie brunner
Mit "Screamdelica" brachen Primal Scream gemeinsam mit Andy Weatherall Gitarrenmusik auf und daraus entstand eine Musik, zu der Tausende, unter ihnen auch ich, ihre Hände in die Höhe warfen. So wie ich gestern zu !Higher than the Sun!.
Viel schöner, als ich hat das vor einiger Zeit ihr damaliger Labelboss Alan McGee Creation Record Gründer in einer Doku formuliert. Ich zitiere aus dem Gedächtnis:
„ Zu dieser Zeit fuhren wir jedes Wochenende nach Manchester in die Hacienda und nahmen XTC, bei vielen geschah nichts. Guy Chadwick von House of Love zog sich einfach Woche für Woche aus. Aber im Kopf von Bobby Gillespie löste es einen musikalischen Quantensprung aus. Primal Scream gingen ins Studio und nahem Screamadelica auf.“
XTC hin oder her, die geistige Notiz ist gesetzt: Wenn meine Urur-Enkel, oder bezahlte Nachbarskinder mich auf dem Sterbebett nach einer Liste der zehn wichtigsten Alben fragen werden, für eine Übermittlung an spätere Generationen in der Familienchronik, "Screamadelica" wird dabei sein. "Yo! Bum Rush the Show" übrigens auch, meinen vorprogrammierten Kniefall vor Public Enemy beim Berlin Festival gibt es hier in Kürze.