Erstellt am: 10. 9. 2011 - 14:13 Uhr
Wien, du bist ein Taschenmesser!
In Berlin wütet gerade die Berlin Music Week – aber manchmal hat man einfach Glück, kann dem tristen Grau den Rücken zukehren und eine ganze Woche in Wien unter Palmen verbringen.
Eine Woche Wien, da muss man sich etwas vornehmen. Ich nahm mir vor, endlich das wahre Wien-Gefühl zu entdecken.
Der Flug war kurz, die Ankunft fiel auf einen warmen Spätsommerabend und schon der erste Abend versprach hochinteressant zu werden, sollte er mich doch gerade nicht in die mir schon bekannten Clubs, Bars und Cafes führen. Zur Einstimmung auf Wien war ich zum Volksstimmefest der KPÖ auf der Jesuitenwiese verabredet.
Leider kannte der Taxifahrer die Adresse nicht und setzte mich schnöde am Haupteingang zum Prater ab. Noch war ich guter Dinge, strich zuversichtlich durch arg glatt renovierten Vergnügungspark und fragte mich so durch. Die Jesuitenwiese kannte auch hier kein Mensch, nur ein altes Großmütterchen schickte mich zum“Schweizerhaus“ und dann nach rechts, es wär’ aber arg weit. Keiner der dort wartenden Taxifahrer kannte die Wiese. Schließlich fand ich doch einen, der schimpfte kräftig auf seine Kollegen, das wären bestimmt keine Wiener gewesen und versprach mich ziemlich nah zum Fest zu bringen, aber näher wie 200 Meter käme er nicht heran, es wär’ alles Wasserschutzgebiet.
Tapfer stieg ich aus als er mich mitten im Wald aussetzte „immer der Straße lang laufen „sagte er und bald würde ich Musik hören und Lichter sehen. Ich lief und lief, sah aber nur Bäume, dunkel war’s, kein Mensch war unterwegs, eine vierspurige Straße führte über den Waldweg, dann lange wieder nichts. Ich lief immer weiter, die Füße wurden schwer, ich munterte mich mit dem Gedanken auf: „Ein Glück bin ich nicht ängstlich veranlagt, sonst wär’ es schon gruslig so allein im Wald!“ Was für ein seltsamer Anfang meiner Wienwoche!
Christiane Rösinger
Christiane Rösinger
Nach einer weiteren Dreiviertelstunde, ich war inzwischen schon ein bissel verzweifelt, kam zum Glück ein betrunkener Fiakerfahrer des Weges. Selig saß er zwischen den Bierdosen auf seinem Kutschbock, hielt aber sein edles Ross an und wies mir den Weg. In die entgegen gesetzte Richtung hatte mich der Taxifahrer, seiner Meinung nach ein Arschloch wie alle seiner Zunft, geschickt! Auf dem einstündigen Rückweg, ich spürte die Füße nicht mehr, geriet ins Straucheln und Stolpern fuhr mir „Wien du bist ein Taschenmesser“ durch den Kopf und ich dachte darüber nach, ob ich diese erste Wienepisode unter „ Deutschenfeindlichkeit“ oder „Zufall“ ablegen sollte.
Endlich an der Jesuitenwiese angekommen war das KPÖ Fest fast schon zu Ende, die Band „Blaulichtviertel“ spielte noch einige Rocknummern für das beseelt tanzende Publikum.
Nach diesem Natur- Abenteuer wollte ich in den nächsten Tagen auf der Suche nach dem Wien-Gefühl das mir noch unbekannte, touristische Wien besichtigen.
Aber schon nach zwei Ausflügen zum Ring, zum Palmenhaus und Burggarten erschlug mich die bauliche Schönheit der Stadt, beim Stephansplatz spürte ich schon gar nichts mehr, gab auf und recherchierte nachts am Gürtel weiter. Dort empfahl man mir Ausflugsziele an der Donau, pries den Zentralfriedhof und erzählte mythische Geschichten von Schnitzeln gefüllt mit Knödeln und Linsen, und am nächsten Tag machte ich mich dann mit zwei Ortskundigen zum „Friedhof der Namenlosen“ auf.
christiane Rösinger
christiane Rösinger
Herrlich war die Fahrt raus aus der Stadt in interessante Gewerbegebiete, vorbei an Containern und Industriegebäuden. Hinter dem Hafen wurde einem dann doch recht feierlich und gruselig zumute: Die schöne Wildnis des Friedhofs mit den überwucherten Gräbern und den Kreuzen, die Gedenktafeln die an die Opfer der Donau erinnerten, und an die gutherzigen Menschen, die sie auf eigene Kosten bestatteten und ihre Gräber gepflegt hatten. Meine beiden Begleiter, sonst eher von der lethargischen Sorte wurden auf einmal ganz aktiv, stolperten durchs Dickicht um den alten „aufgelassenen“ Friedhof zu suchen und die genaue Stelle an der Donau, an der die Wasserleichen früher angeschwemmt wurden. Besinnlich starrten wir in die Donaufluten, meine Fremdenführer sinnierten über ihr eigenes Ende, dass sie wohl eines Tages zum Wiener Zentralfriedhof führen würde und auf einmal war es da, das Wien-Gefühl, nach dem ich so lange gesucht hatte.