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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

8. 9. 2011 - 20:43

Journal 2011. Eintrag 166.

Erst jetzt ist ein offener Diskurs über die Wenderegierung möglich. Wird er kommen?

2011 ist Journal-Jahr - wie schon 2003, 2005, 2007 und 2009. Das heißt: Ein täglicher Eintrag, der als Anregungs- und Denkfutter dienen soll, Fußball-Journal '11 inklusive.

Hier finden sich täglich Geschichten und/oder Analysen, die ich als passionierter Medien-Konsument selber gern gelesen/-sehen/-hört hätte, aber nirgendwo (oder nur unzureichend) finden konnte; und deshalb selber ausforschen und durchdenken muss.

Heute mit dem Ausdruck der Hoffnung, dass eine bislang nicht aufgearbeitete Polit-Ära sich endlich einem Diskurs stellen kann.

Die schief sitzende Krawatte mit ihrer breiten, rot-weißen Flechtung sagte mehr als Andreas Khol selber. Denn der bot am Runden Tisch vom Montag, der Wolfgang Schüssels Rücktritt aus seinen politischen Ämtern zum Thema hatte, ein jämmerliches Bild.

Das eines Hahnrei.

Zumindest sah man ihm, dem erzkonservativen Tiroler, die Scham über das Geschehene an. Darüber sich von einer Bande von Kriegsgewinnlern, Handaufhaltern und Abzockern ohne jede politische Substanz über den Tisch gezogen haben zu lassen. Jahrelang bildete Khol mit einer der Inkarnationen dieser Strategie der berechnenden Geschäftemacherei ein gefürchtetes Action-Duo, jahrelang war er mit Figuren, die heute niemand mit der Feuerzange angreifen wollte, engstens verpartnert. Jetzt schießt ihm die Schamesröte ein, wenn man diese Namen nennt.

Wolfgang Schüssel kann das nicht passieren; öffentlich zumindest. Die sichtbare Scham hat er sich schon bei der Regierungsbildung wegtrainiert, eisern und verbissen. Um den Plan eine "Wende" nach thatcheristischem Vorbild zu schaffen, umsetzen zu können; koste es, was es wolle.

Khol leidet öffentlich, Schüssel taucht ins Mauseloch

Denn während Khol zumindest zuzutrauen ist, dass er an das Gute im dritten Lager, bei den nationalistischen Populisten, den egomanischen Emporkömmlingen, geglaubt hat - auch aus dem Gefühl heraus, dass sich hier eine neue Generation von Politikern entwickelt, die er vielleicht nicht so recht versteht - ist klar, dass dem Meister-Taktiker Schüssel in jeder Sekunde seines Handelns klar war, mit welcher Partie er sich da eingelassen hatte.

Die konnte er ganz gut für sein zentrales Vorhaben instrumentalisieren: den Staat filetieren, die alten Sozialstrukturen ausbluten, massiv privatisieren - das alles mit dem alten, als neu verkauften Ich-AG-Schmäh für eine raubtierkapitalistische Zukunft.
Und es ist kein Zufall, dass gerade jetzt, zu einem Zeitpunkt wo diese Idylle, diese Ideologie-Blase aus den eigenen Reihen als gescheitert abgehakt wird, diese aufbrechenden Wunden besonders schmerzen.

Denn auch diese Debatte hat vor allem Khol schwer mitgenommen - an Schüssel ist sie abgeprallt, weil er (ihr österreichischer General) wieder einmal seinem Schweige-Gelübde nachgekommen ist, mit dessen Hilfe er immer alles aussitzen wollte - und dabei doch nur verzögern, aber das Scheitern nicht verhindern konnte.

Khol leidet öffentlich - sein tiefsitzender Katholizismus verlangt ihm diese Bußgänge nachgerade ab.
Schüssel sitzt im Mauseloch, so wie er früher hinterm Kanzler-Schreibtisch saß; abwartend, aussitzend, ganz ohne Reue, und auch gänzlich ohne Einsicht. Ganz wie der deutsche Kanzler Kohl, der sein groteske Selbstsicht in eine katastrophalen Autobiographie gesteckt hat. Denn auch diesbezüglich hat Schüssel mehr verdrängt als offengelegt.

Die beginnende Aufarbeitung der Wende-Jahre

Es ist noch jede politische Ära, die zeitlebens von ihren Propagandisten hochgeschrien wurde, irgendwann später decouvriert und dechiffriert worden.
Wir haben Dinge über Kreisky und seine Herrschaft erfahren, die wir fast nicht wissen wollten, weil sie sein unantastbares Bild gar zu wild angekratzt hatten.
Recht schnell nach ihrem Ende wurde die vergleichsweise ungeschickte Nachfolge-Ära von Sinowatz als nahe am Strafgesetz streifende Phase enttarnt.
Und über die 90er, die Vranitzky-, vor allem aber die Klima-Regierungen prasselte schnell eine Dämonisierung ein, die etwas zu hoch griff: Denn da war viel eher der von den Nadelstreif-Sozis bewusst praktizierte gesellschaftliche Stillstand das Problem, als die von der Wenderegierung in ihre Halali-Hörner geblasene angeblich fehlende Wirtschaftskompetenz.

Und jetzt erwischt es die Wende-Regierungen, aber Länge mal Breite. Nachdem die ideologische Aufmunitionierung dieser historisch-hysterischen Phase von den Konservativen selbst als Irrtum zugestanden wurde, kracht es jetzt an der moralischen Front. Das ganze Ehrlichkeits-, Offenheits-, Reformeifer-Blabla, alle Säuberungs- und "Wir-machen's anders"-Beschwörungen - innerhalb weniger Stunden zerbröselt das in ein greuliches Nichts.

Gut, das wusste jeder, der mit offenen Augen durch die politische Landschaft ging, auch schon in realtime. Denn die Bereicherungen, die an raubritternde Landesfürstlichkeit gemahnende Aufteilung von Pfründen, öffentlichen Gefälligkeiten oder Konsulententum war im Wortsinn augenfällig.

Politische Schattenwirtschaft, prall und orgiastisch

Was die eingesessenen Altparteien seit Jahrzehnten dezent und strukturell höchst eingeschliffen praktizieren (Korruption und politische Schattenwirtschaft sind seit jeher ein zentraler Begleiter österreichischer Politik, auf allen Ebenen), wurde von Schüssels salonfähig gemachten Neo-Partnern, den politisch Neureichen, ganz offen ausgelebt. Öffentlich, orgiastisch, mit fettig-praller Lebensfreude, mit überdeutlichen Drohungen, Hohngeschrei in die Gesichter der Abgelinkten inklusive.

Genau da haben dann Schüssel, Khol und die anderen ihre übelste Aufgabe übernommen: Indem sie dieses gierige Gezerre, diese deutlich nur an persönlichen und parteipolitischen Machtinteressen orientieren Vorgänge gedeckt haben. Mit immer präsenten und klaren Drohgebärden der wahren Mächtigen, der VP-Spitzen - hinter denen sich gut munkeln, wildern, einschüchtern, drohen und politisch brandschatzen ließ.

Man war das gewohnt, von den Ausreißern aus den eigenen Reihen, deren Sudeleien man auch immer decken musste, weil die Ministerinnen-Gatten, Oligarchen-Schuhputzer oder einfach nur machtgeile Socken waren. Und weitete diese altbekannte Kampfzone dann eben auch auf die neuen Conquistadores aus, ohne die einer substanziellen ethischen Durchleuchtung zu unterziehen. Kadavergehorsam im Dienst einer großen gemeinsamen Ideologie - auch wenn sich dieser Gedanke innerhalb kürzester Zeit als Irrtum herausstellte: das Bild wurde aufrechterhalten, wider besseres Wissen, auf direkten Befehl des Kanzlers.

Der Sündenfall als Chance

Jedem politischen Beobachter war diese Struktur zu jeder Zeit klar, offen wie das gleichnamige Buch. Wer das zum Thema eines Diskurses machen wollte, der wurde entweder niedergedroht, oder mit dem Nestbeschmutzer- oder dem Linkslinken-Emanzen-Reflex geprügelt.

Deshalb kommt dieser Diskurs erst jetzt, und das auch nur schön langsam, zustande. Womöglich war die Bankrotterklärung der Feinde der Zivilisation dazu notwendig. Und die nicht gerade zufällige Ballung von neuen zahlreichen Sündenfällen (vom Kurzzeit-Minister bis zum Vizekanzler) im Zusammenhang mit der Telekom-Affäre tat dann das ihre dazu.

Erst damit ist nun ein offener Diskurs über die Wenderegierung möglich.

Wolfgang Schüssel wird dazu schweigen, Andreas Khol sich vielleicht in einer Art politischem Testament entschuldigen, andere Beteiligte werden sich in die Schatten der Chefs flüchten und ausreden. Die aktuelle VP wird den Schluss ziehen, dass es verdammt gefährlich ist allzu viel Macht in einem kleinen Küchenkabinett zu konzentrieren.
Für eine wirkliche Aufarbeitung reicht das aber nicht.

Vielleicht besteht aber - außerhalb eines reinen Schlagzeilen-Angebots - auch gar kein Bedarf dafür. Ich gehe davon aus, dass diese Diskussion nicht in den Mainstream-Medien passieren wird - aktuell, nur ein paar Tage nach dem Schüssel-Eklat, ist das Thema ja bereits ad acta gelegt.