Erstellt am: 8. 9. 2011 - 14:16 Uhr
Glück mitten im Unglück
Ein Klassiker im Sommer: Gebucht. Mit Clemens Setz "Gullivers Reisen" lesen. Jeden Montag und Donnerstag auf fm4.orf.at/clemenssetz
Mit dem Sommer selbst (heute war ich das erste Mal wieder mit Jacke auf dem Tandem unterwegs) neigt sich auch diese Sommer-Leseaktion ihrem Ende zu. Grelle Bilder geleiten uns aus diesem Buch, in denen wir unsere Yahoo-Natur klar und deutlich aufleuchten sehen:
„Denn wenn man (sagte er) unter fünf Yahoos so viel Futter wirft, wie für fünfzig genügen würde, so werden sie, statt friedlich zu fressen, übereinander herfallen, da jeder einzelne danach giert, alles für sich allein zu haben.“
Oder das altbekannte Problem der „glänzenden Steine“ (Gold) – das Houyhnhnm, das sich um Gulliver kümmert, versteckt einmal heimlich einen von einem Yahoo gehorteten Schatz solcher nutzloser Steine: „Als das schmutzige Tier seinen Schatz vermisste, habe es durch sein lautes Klagegeschrei die ganze Herde an den Ort gerufen, dort jämmerlich geheult und dann begonnen, die übrigen zu beißen und zu kratzen. Es habe angefangen, sich abzuhärmen, und habe weder essen noch trinken noch arbeiten wollen.“
Die heulenden, schnatternden, schwankenden, übereinander herfallenden Yahoos, immer vertrauter werden sie, immer näher rücken sie uns – und Gulliver, der von dem System der Wahl ihrer Herrscher erfährt – er, der so viel über die europäischen Fürstenhöfe zu erzählen weiß! – ist entsetzt angesichts ihrer barbarischen Ekelhaftigkeit. Auch das Balzverhalten der Yahoo-Weibchen ekelt ihn zutiefst – keine große Überraschung. Einmal wird er von einem dieser Weibchen, das natürlich genau sieht, dass er ein Vertreter ihrer Spezies darstellt, sogar angesprungen: „Noch nie in meinem Leben war ich so furchtbar erschrocken". Sie umarmte mich in der brünstigsten Weise. Ich brüllte, so laut ich konnte, und das Pferd kam herbeigaloppiert“.
Dagegen erscheinen Gulliver die Houyhnhms als tugendhaft, sauber, klug, gebildet, ihre sozialen Rituale und Gewohnheiten als anständig und maßvoll, sie „erziehen ihre Jugend zu Kraft, Schnelligkeit und Mut“ und so weiter.
So ist es nicht verwunderlich, dass die Houyhnhnms auch über ein Thema – das zufällig auch ein Grundthema des Romans ist – in ihrer Generalversammlung beratschlagen. Es ist die Frage, „ob die Yahoos vom Angesicht der Erde vertilgt werden sollten.“ Der Besitzer von Gulliver spricht sich als einer der wenigen Houyhnhnms dagegen aus (und wird dafür von seinen Pferdekollegen argwöhnisch gemustert – ihnen beginnt diese widernatürliche Freundschaft zwischen vernunftbegabtem Pferd und mit Kleidern verziertem Yahoo allmählich zu missfallen).
Er schlägt vor, die Yahoos der Insel lediglich zu kastrieren. Gulliver selbst hat ihn auf diesen Gedanken gebracht. „Die Operation sei leicht und ungefährlich“.
Die Tage in seinem Paradies sind für Gulliver vorüber. Er ahnt es – und klammert sich in seinem Bericht ein letztes Mal mittels seitenlanger Beschreibungen der wunderbar eingerichteten Gesellschaft im Land der Houyhnhnms an jenes Leben, von dem er bald Abschied nehmen muss.
Denn die menschliche Natur – was immer man an dieser Stelle der Erzählung unter ihr verstehen mag – hat sich auch in den Houyhnhnms bemerkbar gemacht. Anstatt ihn bei sich leben zu lassen, wird Gulliver gebeten, die Insel zu verlassen. Diese Entscheidung ist Gullivers Herrn peinlich, aber da er ein nach der Vernunft und der Weisheit der Generalversammlung handelndes Wesen ist, beugt er sich ihr mit großer Selbstverständlichkeit: „Man habe erfahren, dass er sich häufig mit mir unterhalte, als wenn ihm meine Gesellschaft nützlich oder angenehm sein könnte. Ein solches Verhalten sei weder mit der Vernunft noch mit der Natur vereinbar, noch habe man je bei ihnen dergleichen vernommen.“ Nein, ein Yahoo als ebenbürtiges Wesen, das ist ein Skandal.
insel verlag
Jonathan Swift: "Gullivers Reisen", in einer Übersetzung von Franz Kottenkamp, erschienen im Insel Taschenbuch
Gulliver fällt ihn Ohnmacht. Ich glaube – aber das nur meine Interpretation – nicht aus Entsetzen über die Vertreibung aus dem Paradies. Sondern aus tödlicher Überraschung, das Gemunkel, das Hinterrücks-Anschwärzen und die nachbarschaftliche Denunziation vorzufinden.
Ihm wird erlaubt, ein Kanu zu bauen, dass er, in grimmiger Rache an seinem Schicksal, mit Yahoo-Talg (!) abdichtet. Er kommt damit bis zu einer nicht weit entfernten Insel, auf der ihm Eingeborene begegnen, die ihn mit Pfeilen vertreiben wollen. Schließlich trifft er auf Europäer. „Als sie zu reden anfingen, glaubte ich, nie etwas so Widernatürliches gehört oder gesehen zu haben; es schien mir nämlich ebenso ungeheuerlich, wie wenn ein Hund oder eine Kuh in England oder ein Yahoo im Lande der Houyhnhnms sprechen könnte“. Sie bringen den wehrlosen Gulliver, der sich wehrt und lieber als Einsiedler den Rest seines Lebens in Einsamkeit zubringen möchte, auf ihrem Schiff nach Hause zurück.
Auf diese gewaltsame Rückkehr ist der ganze Roman ausgerichtet. Es ist die Spitze, auf der er – einer umgedrehten Pyramide gleich – balanciert. Es gibt einen Satz des irischen Dichters W. B. Yeats, den ich im genauen Wortlaut nicht wiederfinden kann, aber der sinngemäß lautet: „Wer einmal Geister gesehen hat, dem erscheint Menschenhaut für lange Zeit entsetzlich grob“. Genau dies ist der Zustand von Gulliver. Man muss ihn wieder dazu zwingen, Menschen zu betrachten, mit ihnen zu interagieren, ihre Gegenwart zu ertragen. Als ein Schneider an ihm Maß nehmen will, protestiert Gulliver über die entsetzliche körperliche Nähe. Der Kapitän des Schiffes, das ihn nach Hause gebracht hat, erklärt ihm, „es sei ganz unmöglich, eine solche Insel zu finden, wie sie mir wünschte, um dort zu leben; in meinem eigenen Haus jedoch könne ich bestimmen und meine Zeit so zurückgezogen verbringen, wie ich nur wolle.“
Ja, ja... wäre da nicht die arme Ehefrau, diese letzte und für ihn vielleicht auch furchterregendste Verbindung zwischen Gulliver und dem Rest der Menschheit. Mit ihr hat er Kinder, für sie hat er einst Liebe empfunden.
„Sobald ich das Haus betreten hatte, nahm mich meine Frau in die Arme und küsste mich; da ich so viele Jahre nicht mehr gewöhnt gewesen war, von diesem widerlichen Tier berührt zu werden, fiel ich in eine Ohnmacht, die beinahe eine Stunde anhielt“.
Doch allmählich gewöhnt er sich wieder an sie, im letzten Kapitel berichtet er sogar: „Letzte Woche habe ich meiner Frau zum erstenmal wieder erlaubt, mit mir zu essen“.
Ganz unter uns, das letzte Kapitel hätte der von Jonathan Swift erfundene Herausgeber Richard Sympson, mit dem Gulliver am Anfang des Romans so hart ins Gericht gegangen ist, durchaus streichen können. Es ist nicht schlecht, aber es fügt sich nun mal die majestätischen letzten Zeilen des vorletzten Kapitels an, welche das wahre Ende der langen Erzählung bilden.
Ein vollkommeneres Bild des Glücks mitten im Unglück, doch ein Mensch zu sein und zu einem Leben inmitten von Kommunikation, Interaktion und sogar Fortpflanzung führen zu müssen, gibt es in der Literatur meines Wissens nicht. Zitieren wir es also hier zur Gänze, um mit ihr auch diese Sommerlesereihe zu Ende gehen zu lassen:
„Das erste Geld, das ich ausgab, verwandte ich für den Kauf zweier junger Hengste, die ich in einem guten Stall halte, und nächst ihnen ist der Stallknecht mein liebster Freund; denn ich fühle, wie sich meine Lebensgeister durch den Geruch beleben, den er im Stall annimmt. Meine Pferde verstehen mich ziemlich gut; ich unterhalte mich jeden Tag wenigstens vier Stunden mit ihnen. Zaum oder Sattel sind ihnen unbekannt; sie leben in gutem Einverständnis mit mir und in großer Freundschaft miteinander.“