Erstellt am: 6. 9. 2011 - 23:58 Uhr
Polly's cracker
Ich hatte fest vorgehabt, hier was über die wachsende Sinnlosigkeit des Mercury als Albumpreis zu schreiben. Nicht, weil ich Alben selber für irrelevant halte, sondern weil der Mercury doch immer ganz vorn sein will. Und ganz vorn – das weiß auch ich, der einen Scheissdreck drauf gibt, ganz vorn zu sein – sind Alben per se schon länger nicht mehr.
Aber dann hat PJ Harvey nach zehn Jahren zum zweiten Mal gewonnen (was es übrigens noch nie in der Geschichte dieses Preises gab), und plötzlich war alles umgekehrt, und plötzlich war ich doch wieder dabei.
Weil „Let England Shake“ eben genau das ist, was ein Album sein soll, nein sein muss im Zeitalter des Tonträgers als Zweitmedium: nämlich eine zwingende thematische Einheit (man muss deshalb genauso wenig Konzept dazu sagen, wie man das bei einem Buch oder Film täte).
Als PJ Harvey das letzte Mal, an jenem 11. September 2001, für ihr Album „Stories from the City, Stories from the Sea“ den Mercury gewann, saß sie mit ihrer Band in Washington fest und sah durch ihr Hotelfenster eine Staubwolke über dem Pentagon aufsteigen.
Es könnte kaum passender kommen, als dass sie zehn von endlosen Kriegen gebeutelte Jahre später mit einem intelligenten Album über Englands schuldige, kriegerische Seele denselben Preis wieder gewinnen sollte.

BBC
„The words that maketh murder“, in der Tat, die in England Lebenden kennen sie zur Genüge: Die immer wieder händeringend vorgebrachten großen Worte des jeweiligen Mannes im dunkelblauen Anzug und seinen moralisch begründeten Drang zum nächsten gerechten Gemetzel.

BBC
Ich kenne Leute, die meinen, „Let England Shake“ sei nicht ganz so schlau wie es tue. Ich behaupte: So ist das bei guter Popmusik. Du hörst Dinge, die bei näherem Studium des Textblatts gar nicht da sind. Sie existieren nur als schwebend mysteriöse Präsenz im Sound, zwischen den Worten, dem ätherischen Kirchenhall und der auf Geisterfüßen durch die Krypta pirschenden Autoharp.

BBC
„War is here now in our beloved city!“
Zwischen Dattelpalmen, Orangen- und Mandarinenbäumen ("Written on the Forehead"). Nur damit wir uns wieder ins Gedächtnis rufen, dass die Kriege, die England ficht, nicht in seinen eigenen geliebten Städten ausgetragen werden.
Also leider nein für James Blake, aber die Leute lästern schon die längste Zeit zu laut über das, was sie noch vor so kurzer Zeit so gut an ihm fanden (sein Fast-nicht-da-sein, das Plug-In-Ausprobier-Stimmen-Treatment).
Schade um Metronomy, da hatte bei allem charmanten DIY-Glamour die Gewinnerin einfach mehr Gewicht.
Und auch als großer Freund des King Creosote muss man einsehen, dass doch nicht seine, feine kleine, sondern PJ Harvey's Platte die war, die bei ihrem Erscheinen die so selten spürbare Aura der unbestreitbaren Wichtigkeit verströmt hat.

Universal
Tut leid auch für Anna Calvi, Katy B, Tinie Tempah, Everything Everything, Ghostpoet aber das Debüt-Album zum Selbstzweck der Vorstellung seiner ProtagonistInnen ist eben genau das Gegenteil davon, was „Let England Shake“ verkörpert und auch jedes Album, das diesen Preis in Hinkunft gewinnen will, erfüllen sollte, nämlich seine Existenz in seinem Zusammenhang zu rechtfertigen (bei Elbow's „Build A Rocket, Boys“ wär sich das übrigens auch ausgegangen, aber die hatten ohnehin schon die drei Jahre seit dem letzten Preis mit Abräumen verbracht).
Vielleicht war es also nur nur ein Zufall, was heuer passiert ist, oder der Mercury hat begriffen, dass er nicht mehr wie früher eine A&R-Leistungsschau und nie wieder ganz vorn sein kann, sondern sich ab nun leidenschaftlich gerade der marginalen Nischenkunst des Albenmachens wird widmen müssen.
Sonst braucht ihn nämlich wirklich keiner mehr.

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