Erstellt am: 6. 9. 2011 - 19:28 Uhr
Der Feind von gestern
Die Trailer-Gewitter brausen bereits heran, wann immer man hier den Fernseher aufdreht. Im Radio lösen einander mit Ambient-Klängen unterlegte Schicksalsberichte mit täglich zunehmender Dichte ab.
Eine Betroffenheit nach der anderen wird uns zum kommenden Jahrestag des 11. September aufgetischt, so als wäre der Tod dieser rund 3000 Menschen nicht jetzt schon die am Schamlosesten instrumentalisierte Tragödie der letzten zehn Jahre gewesen.
Man kann mutig sein wie Gary Younge in seiner gestrigen Kolumne – auch wenn ich mir an seiner Stelle die provokante Verkürzung der Überschrift noch einmal in Ruhe überlegt hätte – und sich ganz auf die desaströsen politischen Auswirkungen jener historischen Katastrophe konzentrieren.
Oder man könnte ganz im Gegenteil versuchen, den Massenmord von Manhattan von seinem späteren rhetorischen Missbrauch zu befreien.
Vielleicht könnte ja das, was nun eine knappe Woche vor dem großen Jahrestag in Tripoli passiert ist, dabei unverhofft zu Hilfe kommen - auch wenn auf den ersten Blick kein direkter Zusammenhang besteht:
Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch ist im Büro des libyschen Spitzelchefs und späteren Außenministers Moussa Koussa auf 300 Dokumente gestoßen, die die enge Zusammenarbeit der Geheimdienste MI6 und CIA mit der libyschen Regierung real fassbar machen.
Wir erinnern uns: Von 2002 bis 2004, während gleichzeitig der Irak-Krieg angebahnt und ausgefochten wurde, hatten die Briten in scharfem Kontrast dazu die Versöhnung mit Oberst Gaddafi gesucht und gefunden.
Zwar wusste man seither von Folterflügen nach Libyen im Rahmen der sogenannten „extraordinary renditions“, die konkreten Dokumente zu sehen, die locker freundschaftliche Art, in der sich MI6-MitarbeiterInnen bei ihren libyschen Verbündeten für Datteln und Orangen bedanken und dabei die Auslieferung libyscher Oppositioneller besprechen, ist bei aller Abgebrühtheit aber immer noch schockierend.
Vom Geheimdienst in die Ölindustrie
So heißt es in einem Brief aus London an die Libyer: „Vor allem aber gratuliere ich Ihnen zu der sicheren Ankunft von Abu 'Abd Allah Sadiq. (…) Dies war das Mindeste, was wir für Sie und für Libyen tun konnten, um das bemerkenswerte Verhältnis zu demonstrieren, das wir während der letzten Jahre aufgebaut haben. Ich war Ihnen so dankbar, dass Sie dem Beamten ausgeholfen haben, den wir letzte Woche ausgeschickt haben.“
Gezeichnet „M“, alias Sir Mark Allen, der ehemalige Director for Anti-Terrorism beim MI6, der 2004 aus dem Geheimdienst ausscheiden und stattdessen als Berater für BP einen Öl-Deal im Wert von 15 Milliarden Pfund einfädeln sollte. Besser könnte es sich kein Verschwörungstheoretiker ausdenken.
Der in dem Brief erwähnte, 2004 auf dem Flughafen von Kuala Lumpur mit seiner Frau aufgegriffene und via Bangkok vom CIA nach Libyen verschleppte Abu 'Abd Allah Sadiq ist heute übrigens unter dem Namen Abdelhakim Belhadj NATO-Verbündeter als Kommandeur des Militärrats von Tripoli.
Vor zwanzig Jahren kämpfte er in Afghanistan mit den Mudschahedin gegen die sowjetische Besatzung.
Wie wir jetzt wissen, belieferte der britische Geheimdienst die libysche Regierung noch bis vor wenigen Wochen mit Informationen über libysche Oppositionelle (besonders mutmaßliche Mitglieder der von beiden Staaten als terroristische Organisation eingestuften Libyan Islamic Fighting Group), selbst wenn diese legal in Großbritannien lebten.
Einer davon ist Omar Deghayes (hier beschrieben von Wikipedia und vom Guardian interviewt), dessen Vater 1980 in Libyen als Regimegegner umgebracht wurde und der selbst – offenbar aufgrund einer Verwechslung – von 2002 bis 2007 in Guantanamo Bay als „enemy combatant“ eingesperrt war und dort laut eigenen Aussagen so schwer missbraucht wurde, dass er dabei ein Auge verlor.

BBC
Gestern saß Deghayes als Gast im BBC-Nachrichtenstudio und erzählte in gemessenem Ton von Leuten, die nach ihrer Auslieferung durch die Briten nach Libyen zu Tode gekommen sind - im Namen des gemeinsamen Kampfs gegen den islamistischen Terrorismus.
Wer Geschichten wie seine oder die des Abdelhakim Belhadj hört und liest, fühlt sich zwangsläufig an den abgegriffenen, alte Stehsatz vom "one man's terrorist" erinnert, der "another man's freedom fighter" sei.
Wobei jener „one man“, falls er im britischen Außenamt arbeitet, in den letzten zehn Jahren bezüglich libyscher freedom fighters/terrorists gleich zweimal seine Meinung geändert haben wird.
Das Ende von Gut und Böse
Das heißt natürlich noch lange nicht, dass jene Leute nicht zu mörderischen Anschlägen imstande gewesen wären. Und schon gar nicht, dass etwa die libysche Revolution selbst über schwere Vorwürfe rassistischer Übergriffe erhaben wäre.
Es illustriert aber umso besser die primitive Dummheit der von Tony Blair und George Bush nach dem 11. September 2001 immer wieder angewendeten Rhetorik des Kampfs zwischen Gut und Böse, verbunden mit der noch viel größeren Dummheit, zu glauben, dass unter Folter in Libyens Gefängnissen erzwungene Aussagen irgendeinen hilfreichen Zweck in der Verhinderung von Terror-Anschlägen erfüllen könnten.
Diese Denkweise, so lächerlich sie im Nachhinein scheint, war nach dem 11. September 2001 Konsens im medialen bzw. politischen Mainstream.
Nach den Lektionen des arabischen Frühling - insbesondere nach dem Fund der Geheimdokumente im Büro des Folterknechts Moussa Koussa - ist sie nun, gerade noch rechtzeitig vor dem düsteren Jubiläum, wohl endgültig unhaltbar geworden.
Und wenigstens das ist am Ende, nach all den in den letzten zehn Jahren sinnlos verschwendeten Menschenleben, ja vielleicht doch noch ein Fortschritt.