Erstellt am: 5. 9. 2011 - 11:20 Uhr
Hohe und niedrige Schulen
Ein Klassiker im Sommer: Gebucht. Mit Clemens Setz "Gullivers Reisen" lesen. Jeden Montag und Donnerstag auf fm4.orf.at/clemenssetz
Staunend erfährt Gulliver von seinem Houyhnhnm-Gastgeber, wie sich das Zusammenleben der Pferdewesen in diesem Land gestaltet. Lügen sind ihnen unbekannt, heißt es, sogar das Konzept kann Gulliver dem klugen Pferd nur mit größter übersetzerischer Mühe klarmachen. (Folgt daraus nicht automatisch, dass die Houyhnhnms auch keine Literatur und Poesie besitzen? Noch bleibt diese Frage unbeantwortet.)
Auch das Konzept der Macht ist den Houyhnhnms unbekannt, was befremdet, weil sie ja auch Diener haben. Allerdings wird erklärt, dass diese Diener bereits in diesem Zustand auf die Welt kommen, eine ähnliche Situation also, wie sie Aldous Huxley in seiner „Brave New World“ beschrieb (man erinnere sich an die Alphas, Betas, Gammas etc., die genetisch auf das Leben in verschiedenen sozialen Stufen vorbereitet bzw. ausgerichtet werden): „Er machte mich darauf aufmerksam, dass bei den Houyhnhnms der Schimmel, der Rotfuchs und der Eisengraue nicht genauso gestaltet seien wie der Braune, der Apfelschimmel und der Rappe und auch nicht mit der gleichen geistigen Begabung oder Bildungsfähigkeit geboren würden; deshalb blieben sie immer im Bedientenstand, ohne jemals danach zu streben, sich außerhalb ihrer Rasse zu paaren, was in diesem Land als ungeheuerlich und unnatürlich gelten würde.“
http://www.flickr.com/photos/mhaller1979/
In diesen für heutige Leser zweifellos unangenehmen und verstörenden Zeilen blitzt natürlich der geistesgeschichtliche Horizont des Verfassers durch, wie auch der herrschende Diskurs der damals Zeit. Selbstverständlich ist das die einzige Lösung für paradiesische Verhältnisse, die man sich denken konnte: Die von vornherein glücklichen Diener, die niemals aufbegehren, sondern ihr Schicksal lieben (so wie beispielsweise die gentechnisch veränderte Verkäuferin Sonmi in David Mitchells Meisterwerk „Der Wolkenatlas“, einem zeitgenössischen, aber nicht minder engen Verwandten von Swifts Roman).
Und die Empörung des Houyhnhnms angesichts Gullivers Beschreibung der brutalen Pferdedressurmethoden in Europa sind natürlich auch nicht aus seinem edlen, mitleidigen Bewusstsein abzuleiten, sondern allein aus dem Skandal, dass es hier um Pferde geht, die doch die Krone der Schöpfung seien (oder, wie es in einem vergangenen Kapitel hieß, „die Vollendung der Natur“).
Auch Houyhnhnms sind nur Menschen. Und man darf natürlich nicht vergessen: Auch die Europäer hielten sich zur Zeit, da das Buch geschrieben wurde, überall auf der Welt ihre „Yahoos“ in Kolonien und, etwas später, auch in ihren Heimatländern, als Leibdiener. Und sie wurden (und im Grunde ist es lächerlich, in diesem Fall so selbstbewusst die Vergangenheitsform zu verwenden) als ebenso schmutzig und vernunftunbegabt und barbarisch beschrieben wie die Yahoos. Swift scheint gegen diese Praxis viel weniger ins Feld zu führen als beispielsweise gegen die den Houyhnhnms unbekannte menschliche Gewohnheit der politischen Intrige und des Ränkespiels oder der absurden Auswüchse der europäischen Rechtsprechung.
Es ist faszinierend zu sehen, wie ein so großer Schriftsteller wie Jonathan Swift hier – man möge mir den leicht herablassenden Ton verzeihen – am Rande der ihm bekannten Welt entlangdenkt. „Mein Herr konnte immer noch nicht verstehen, welche Beweggründe diese Gattung der Rechtsanwälte dazu veranlassen mochten, die Gedankenarbeit, die Unruhe und die Mühen eines solchen Komplotts der Ungerechtigkeit auf sich zu nehmen, nur um ihre Mittiere zu schädigen“. Was anderes als ihre „Mittiere zu schädigen“ tun denn die Houyhnhnms, wenn sie die Yahoos in Ställen halten und zur Arbeit vor ihre Wagen spannen? Einerseits wird das grausame Ritual der Abrichtung von Pferden beschrieben und zweifellos als barbarisch und ungerecht dargestellt, andererseits wird die Welt, in der dasselbe seinen Artgenossen, den Yahoo-Menschen geschieht, von Gulliver als paradiesisches Utopia angesehen. Wohlbemerkt: von Gulliver. Swift enthält sich hier eines direkten Kommentars. Er muss den tiefreichenden Widerspruch gespürt haben, den er zwischen seinen Zeilen eingesperrt hatte.
Die Begeisterung Gullivers für die vermeintlich konfliktlose Welt erscheint uns auf diesen Seiten fast als ein sadistischer Zug gegen seine eigenen nächsten Mit-Tiere, die Menschen. Sein geheimes Ziel ist es – und wir haben es immer geahnt – in einer Welt zu leben, in der das nutzlose, schreckliche Gewürm der Menschheit gequält und geknechtet wird – mit ihm als einziger Ausnahme.
Und was, so könnte man fragen, hätte das Houyhnhnm (Gullivers „Herr“) zur „Haute École“ des Russen Alexander Nevzorov gesagt, jener sanften Methode, Pferde zu Kunststücken zu bringen ohne den Einsatz von schmerzerzeugenden Geräten? Hätte es seinen Umgang mit den Yahoos überdacht? Hätte es womöglich sogar über Schimmel, Rotfuchs und Eisengrauen nachgedacht, über ihr von Geburt an vorgezeichnetes Schicksal? Und hätte Gulliver ihm dazu applaudiert? Und was hätte er, der Europäer, zu einer Hohen Schule des Umgangs mit seinen Mit-Yahoos gesagt? Wahrscheinlich hätte es ihn spätestens an dieser Stelle der Erzählung wieder in die Ferne gezogen, auf See, auf See...
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*(A. Nevzorovs Umgang mit Pferden geschieht angeblich ohne Einschüchterung oder den Einsatz der Geräte (wie Zaumzeug, Sporen etc.), die von Nevzorov ausnahmslos als Folterinstrumente bezeichnet werden. Ich habe keine Ahnung, ob er die Prinzipien seiner „Hohen Schule“ tatsächlich einhält. Aber ein möglicher Indikator dafür, dass er es wirklich tut, sind seine Gegner aus dem Bereich des professionellen Pferdesports und der klassischen Reitschulen: Sie werden nicht müde, ihn seit Jahren zu beschimpfen und sich über seine „unmännliche“ Art der Pferdeerziehung lustig zu machen... )